Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 1 – Zagreb
Zagreb. Der Wind peitscht den Regen über das Rollfeld. Ich werde Nana dort treffen. Es kommt mir immer noch irgendwie kurios vor, aber ich freue mich wahnsinnig. Nein, ich bin sogar komplett aus dem Häuschen. Das hat ein bisschen was von Jet Set, ich, der polyglotte Weltbürger, ich treffe meine Geliebte auf dem International – Airport von… – BAM! – Zagreb. Äh, ja …
Gut, wie der aufgeweckte Leser sicherlich schon geschlussfolgert hat, ich treffe selten Geliebte auf irgendwelchen Flughäfen. Das liegt zum einen daran, dass ich doch recht selten auf eben jenen verweile, zum anderen, dass meine Geliebten, wenn überhaupt vorhanden, in aller Regel gleich in meiner Heimat ansässig sind. Das sorgt nicht zuletzt für eine etwas günstigere CO2 – Bilanz meinerseits. Darf hier auch mal gesagt werden. Aber das soll jetzt nicht das Thema sein.
Wir befinden uns bereits im Sinkflug. Das Turboprop – Aggregat summt zuverlässig wie ein Bienchen neben meinem rechten Ohr. Vor anderthalb Stunden sind wir in Frankfurt gestartet. Wir, das ist ein ziemlich durchmischter Haufen von etwa 80 Personen, die zumindest eines gemeinsam haben, sie wollen nach Zagreb. Warum auch immer.
Vor einer Viertelstunde hat der Pilot von Croatia Airlines, nennen wir ihn Slatko, etwas in sein Mikrofon gekrächzt, es war auf kroatisch, mutmasslich, hätte aber auch gut und gerne ungarisch oder arabisch sein können. Es dürften die üblichen Angaben gewesen sein, die Verkehrspiloten überall auf der Welt zum Besten geben, das Wetter an der Destination ist solala, sie freuen sich wie Bolle, dass du dabei warst, und dass der Anflug etwas holprig sein könnte, hoppala. Danke für die Info, Slatko, ich habe nichts verstanden.
Die Maschine sackt kurz ab. Hoppala – sag ich doch! Immerhin, das Aggregat klingt weiterhin unbeeindruckt gleichmässig. Dafür wird das Geruckel jetzt intensiver. Vielleicht setzt Slatko auch zu einem extravaganten Flugmanöver an, verabredet mit den Kollegen an Ziel, die schon begeistert jolend am Tower warten. Hurra, da kommt er, der Rote Baron des zivilen Luftverkehrs. Ich überlege kurz, ob ein Looping mit diesem Fluggerät machbar wäre, verwerfe den Gedanken aber schleunigst wieder. Dafür verwirft es die Maschine ruckartig nach links. Die junge Mutter neben mir schaut besorgt in die gegenüberliegende Sitzreihe zu ihren zwei kleinen Kindern. Die maulen rum, weniger besorgt, eher gelangweilt. Ich blicke herab auf ländliches Gebiet, grau, braun, grün, ab und zu Wolkenfetzen, kleine Häuser, ein einsamer Lieferwagen zuckelt über die Landstrasse. Trostlos, Aprilwetter deluxe.
Die Flugbegleiterinnen sitzen bereits angeschnallt. Die Maschine zittert kurz, es knirscht in den Stossfängern, ein leichter Hüpfer, fast spielerisch elegant, die Maschine bremst ruckartig ab, wir rollen aus. Kein Looping, keine Rolle, unspektakulär.
Der Regen perlt über mein Bullauge, ich sehe verschwommen ein relativ modernes Flughafengebäude, nicht sehr gross, mittlere Ferieninseldimension, ein paar Gates zum andocken, aber keine Flugzeuge dran. Offenbar kein Drehkreuz des Luftverkehrs, die kroatische Hauptstadt. Die Anwohner werden dankbar sein. Meine Maschine parkt rechts neben dem Gebäude. Da stehen noch ein paar Maschinen ähnlichen Formats wie eine Herde Kühe im kräftigen Landregen. Wir laufen gut 100 m über das Vorfeld. Die meisten Passagiere haben keinen Schirm dabei, einige joggen bereits, ich halte meine kleine Plastikreisetasche über den Kopf. Was heisst eigentlich „Wilkommen in Zagreb“ auf kroatisch, denke ich so vor mich hin. Dann geht es durch eine Glastür, die Treppe hoch, es riecht nach Neubau und scharfen Putzmitteln. Ich bemühe mich um Orientierung, ich will ja schliesslich im Flughafen bleiben und später weiterreisen, Transit, mit Nana, falls irgendwann ein anderes Flugzeug dafür bereitgestellt wird. Ich erreiche unbehelligt die Abflughalle und zu meiner Überraschung verlieren sich tatsächlich etwa ein bis zwei Airbus A 320 Passagierladungen in selbiger, denen offenbar weiterer Flugbetrieb in Aussicht gestellt wurde. Das stimmt mich optimistisch. Es gibt eine Cafeteria, Geschäfte mit dem üblichen Flughafen – Krimskrams, überteuerte Mode, Schnaps und Zigaretten.
Es ist noch Zeit genug bis zum avisierten Weiterflug. Ich verziehe mich mit einem Espresso in eine Ecke der Gastronomie mit Blick auf das Treiben in der Halle. Der Espresso ist nicht gut, dafür teuer, eine international weit verbreitete Kombination, an die ich mich nur schwer gewöhnen kann. Was soll´s, das ist nun wahrlich nicht das grösste Problem dieser Welt.
Ich könnte Nana nerven und mal anrufen? Demnächst, wenn ich schon im anderen Flieger sitze und sie immer noch nicht da ist – harharhar. Mein kleiner, etwas sarkastischer Lacher am Ende des Satzes mag dem ein oder anderen seltsam vorkommen, erklärt sich aber aus der Tatsache, dass Reisen mit Nana gleichzeitig bedeutet, den Bereich des Kalkulierbaren komplett zu verlassen. Ich weiss das zwar, es macht mich trotzdem jedesmal wieder nervös. Ich warte mal noch eine halbe Stunde. Wenn ich so früh anrufe, macht sie sich nur lustig über mich. Wahrscheinlich ist sie eh schon im Anmarsch, ganz sicher.
Eigentlich heisst sie gar nicht Nana. Sie hat halt dunkle lange Haare und eine schwarzgerandete Brille. Im Hinblick auf unsere bevorstehende Griechenlandreise, ist das, zugegeben, eine etwas plumpe Assoziation, aber mir gefällt´s. Und eigentlich war es auch gar nicht geplant, dass wir uns hier in Zagreb treffen, um nach Korfu weiterzufliegen. Also, bei mir schon. Gut, das ist jetzt eine etwas vertrackte Geschichte, die ich versuche kurz zusammen zu fassen.
Nana, eine lebhafte, unternehmenslustige Person, trug sich eines Tages mit dem Gedanken, dem fortschreitenden Alter, sowie latenten Wissensdurst zu trotzen. Als geeignetes Medium erschien ihr eine mehrwöchige Reise, um mit den ihr unbekannten Teilen unseres Planeten in Kontakt zu treten und sich von den Impulsen anderer Kulturen eine Weile triggern zu lassen. Oder so. Und natürlich zu fotografieren, das ist ihr Job und ihre Passion.
Der paralell existierende Lebensabschnittsdingsbums, also ich, wäre hierbei eine eher störende Komponente, könnte aber, wegen guter Führung im Allgemeinen, und im Besonderen, am Ende der Fahrt dazustossen. So geplant und mit einfacher Mehrheit verabschiedet, trat sie die Reise ins Ungewisse an. Das Ungewisse war in diesem Fall sozusagen in und um den Balkan gestreut, von Ende März bis Ende April, und da speziell auch ein paar europäische Kulturhauptstädte dabei, was auch immer das sein mag. Ein verwegener Plan? Nicht für Nana! Ich muss gestehen, dass mir der Balkan etwas fremd, bzw. nach den kriegerischen Auseinandersetzungen des Ex – Jugoslawien der Neunziger auch nicht sonderlich gut beleumundet war.
Wie dem auch sei, musste sie die Reise nach einer Woche wegen gesundheitlicher Probleme im familiären Umfeld unterbrechen und zurückkehren. Nachdem man das glücklicherweise in den Griff bekommen hatte, beschlossen wir, zumindest mal die Endphase der geplanten Exkursion, also den gemeinsamen Teil, wieder aufzunehmen, zumal ja bereits meine Anreise nach Korfu inklusive Unterkunft und die gemeinsame Rückreise aus Athen gebucht waren. Nana gelang es dann, kurzfristig einen Flug Frankfurt – Zagreb zwei Tage vor meinem, und Zagreb – Korfu in meiner Maschine zu buchen. Zur Info, dass da Zagreb da überhaupt mitspielt, liegt an dem frühen Reisezeitpunkt (Mitte April) und den günstigeren Tarifen, die ein bekanntes irisches Luftfahrtunternehmen auf dieser Route offeriert.
Zurück zur Geschichte, zurück zum Zagreb – International. Es war noch ein wenig Zeit zu überbrücken, Zeit den eigenen Horizont zu erweitern. Wenn ich ein fremdes Land bereise, versuche ich stets, die einheimischen Sitten und Gebräuche, bzw. Spezialitäten zu würdigen. Oft gelingt das über den kulinarischen Sektor. Nach dem eher enttäuschenden Erlebnis mit dem Espresso, der ja zweifelsohne nicht zu den landestypischen Spezialitäten zählt, studiere ich die Karte und entdecke ein Produkt namens Slivovitz, ein Getränk, was mir seit meiner Jugend völlig aus dem Gesichtsfeld entschwunden ist, aber nach meiner Erinnerung eindeutig dem hiesigen Kulturkreis zugeordnet werden darf. Ich entschliesse mich spontan zu einer Aktion gegen das Vergessen und begebe mich zum Tresen. Die junge weibliche Servicekraft würdigt meinen Einsatz zur kulturellen Aufarbeitung eher zurückhaltend bis gar nicht, dafür schenkt sie grosszügig ein. In der goldfarbenen Flüssigkeit spiegelt sich nicht nur die schale Neonbeleuchtung der Cafeteria wieder, nein, in meinem Herzen schiebt sich gar eine komplette Dia – Vorführbox in den Projektor der Erinnerung, Klassenfahrt nach Yugoslawien, Grillteller „Lustiger Bosniak“, schlechter Rotwein mit Limo, Marschall Tito und Winnetou, ach du Scheisse … Ich setze das Getränk an. Ein scharfer Geruch deutet die bevorstehende Kollision meines Organismus mit dem Aggressor an. Ich schliesse die Augen und lass es geschehen. Es sind diese Grenzerfahrungen, die die Menschheit seit je her voran bringen, rede ich mir ein. Leicht hüstelnd und mit hervor getretenen Augen verfolge ich die Arbeit der Flüssigkeit beim Ausbrennen meiner Speiseröhre, um dann final irgendwo in die Magengegend einzubrechen. Das tiefe Schnaufen dürfte auch der Servicekraft nicht verborgen geblieben sein. Sie schaut mich aus den Augenwinkeln an. Jetzt erst, auf den zweiten Blick, fällt mir ihre verborgene, ja fast tiefgründige, wenn auch nachblondierte Schönheit auf. Jaaa, der Balkan, das ist der Balkan! Ob Lothar Matthäus wohl auf ähnliche Weise zu dieser Erkenntnis kam?
Ich versuche Gelassenheit in meinen Gesichtsausdruck zu zaubern. Gelingt so semi. Die Bestellung eines weiteren Slivovitz geht wohl auf das Konto eines reichlich angestaubten Männlichkeitswahns (Alter – Weisser – Mann – Syndrom), den ich schon längst verbannt wähnte, der sich aber offenbar hartnäckig irgendwo in meiner Unterwäsche festgebissen hatte. Ich tippe lässig mit dem Zeigefinger auf das Glas und deute eine Eins an. Sie versteht.
Das Klacken eines Paar Stiefelabsätze aus Richtung der Ladengalerie bringt mich zurück in eine andere Wirklichkeit. Nicht nur meine, einige Augenpaare wenden sich in Richtung der da zackig Herannahenden, elegante Sonnenbrille, die dunklen Haare mit einer Klammer hochgesteckt, enges Lederjäckchen, silbernes Rollköfferchen – ein bisschen wie im Film, aber so ungefähr habe ich mir das vorgestellt: Nana.
Ich kippe den zweiten Slivovitz runter. Ein Reflex? Womöglich. Keine Ahnung. Jedenfalls nicht meine beste Idee heute. Die Servicekraft stellt mir ungefragt ein Glas Wasser hin. Ich lösche die schlimmsten Brandherde, die kurzzeitige Atemnot lässt nach, der Schwindel auch. Nana hat mich noch nicht entdeckt. Gut so. Sie späht die Halle auf und ab. Aus einer anderen Richtung taucht plötzlich eine komplette Crew auf, die Piloten in mittelblauen Anzügen mit dem Streifengedöns und schneidigen Mützen, im Gefolge vier Flugbegleiterinnen in seltsam puff – altrosa – farbigen Kostümen, Rollköfferchen obligatorisch. Das sieht eher nach Travestie – Show, denn seriösem Flugbetrieb aus. Vermutlich fangen sie gleich alle an zu singen und zu tanzen. Inklusive Nana. Und Sammy Davies Jr. steppt dazu. Und Marlene Dietrich winkt aus einem vorbei fliegenden, brennenden Zeppelin, und ...
Junge , Junge, Teufelszeug, dieser Slivovitz. Ich schüttle mich noch einmal, dann winke ich Nana zu. Sie kommt rüber, wir umarmen uns, wir küssen uns, sie schnuppert skeptisch an meinem Mund, ich sage nichts, küsse sie nochmal. Die zahlreichen Augenpaare wenden sich wieder ab. Die Crew ist weitergezogen, niemand singt, niemand tanzt. Wäre trotzdem schön gewesen. Ich erwäge kurz, ein Musical zu schreiben: „Zagreb, …“, – ähem, ich vergesse das Ganze mal lieber wieder.
Ein Blick auf die Uhr verrät, dass wir eigentlich schon Boarding haben müssten. Und richtig, in den Pulk vor einem der Gates ist ordentlich Bewegung gekommen. Also, wirklich zu früh wäre sie ja nicht angekommen, gebe ich zu bedenken, während wir uns in die Schlange einreihen. Sie seufzt kurz auf und erzählt dann eine Geschichte, von der ich vorteilhafter Weise vorhin noch nichts wusste. Jedenfalls wäre sie superpünktlich da gewesen, aber irgendwas mit der Buchung sei schief gelaufen, daraufhin Pallaver am Schalter, Schuldzuweisungen hin und her, beidseitiges Unverständnis, bis dann endlich eine Problemlösung gefunden wurde. Wie immer in solchen Fällen, ist die Lösung eine finanzielle, und man hat danach das Gefühl, einen Privatjet gechartert zu haben. Meine Begeisterung ob dieser Story hält sich natürlich in Grenzen, zumal ein Teil meiner Aufmerksamkeit noch mit der Verarbeitung der folkloristischen Spirituose beschäftigt ist. Aber, versuche ich das Positive in den Vordergrund zu rücken, immerhin wäre doch damit unser übliches Reise – Desaster – Katastrophen – Potential schon abgearbeitet und wir könnten ab jetzt quasi tiefenentspannt in die Zukunft blicken. Ich überlege kurz, ob ich selbst glaube – Nein!
Durch die Glasfront erkenne ich ein Fluggerät der Firma Lauda Air, ein Airbus, welcher offenbar für unserem Weitertransport angeheuert wurde. Der muss irgendwo aus dem Nichts gekommen sein, denke ich. Wer steuerte die Maschine an dieses gottverlassene Gate in Zagreb, wenn nicht gar der Firmengründer, die verstorbene Rennsportlegende selbst? Ein erstes Mysterium? Nebelschwaden wabern. Ein leichter Schauder durchzieht meinen Körper.
Im Nachhinein kann ich eines mit Gewissheit sagen, schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Reise deutete sich etwas an, was uns die ganze Zeit hartnäckig begleiten sollte. Also, nicht der tote Österreicher, nein, es ist diese metaphysische Ebene, dieser besondere Stern, unter dem alles zu stehen schien.
Wir betreten das Flugzeug. Es ist nichts Übersinnliches erkennbar. Ausser man zählt das puff – altrosa Outfit der Flugbegleiterinnen dazu. Möglicherweise hat Niki Lauda diese Kostüme selbst entworfen, der Tausendsassa. Quasi sein Vermächtnis. Ich habe allerdings das Gefühl, man bekommt so etwas wie Augenkrebs, wenn man zu lange darauf schaut.
Glücklicherweise ist der Flug mit nur knapp anderthalb Stunden angegeben. Aus dem Cockpit kommt einer der Mittelblauen und hält ein entspanntes Schwätzchen mit einer Altrosanen. Puh, das beruhigt mich dann doch, damit wäre auch geklärt, wer das Ding fliegt, es ist ein Musicaldarsteller. Immer noch besser als ein Untoter.
Wir nehmen unsere Plätze ein. Ich freue mich schon, wenn Nana beim Start nach meiner Hand greift. Das macht sie immer. Das ist schön. Dafür lieb ich sie. Unter anderem.
Der Regen peitscht über das Rollfeld. Was soll er auch sonst tun, wir sind schliesslich in Zagreb. Die Altrosanen tanzen uns die Sicherheitsvorkehrungen vor. Gut, dass sie keine Katzenkostüme anhaben, fällt mir dazu ein, das würde ich dann echt nicht mehr aushalten. Wir rollen los. Kurz glaube ich, Niki Lauda in Warnweste da unten stehen zu sehen. So ein Unsinn!

Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 2 – Korfu (Kerkyra)

Es hat aufgelockert, tatsächlich scheint die nachmittägliche Sonne ab und zu durch die Wolken. Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in Sinkflug. Ein Satz von geradezu fataler Prägnanz, würde man das ganze Weltgeschehen damit beschreiben wollen. Aber so weit will ich nicht gehen, nicht jetzt, nicht in einem österreichischen Ferienflieger mit karnevalesker Besatzung.
Ich beuge mich etwas über Nana, um links aus dem Fenster zu gucken. Im Hintergrund erstreckt sich das graubraune Band des Festlandes, im Vordergrund direkt neben, bzw. unter uns ein breiter, besiedelter Landstreifen im Meer, es lässt sich schon einiges zu erkennen, Häuser, Strassen, Olivenhaine und sonstiges Zivilisationsgelärsch (Gelärsch – siehe Hessenlexikon) in hügeligem Gelände. Nach meinen Berechnungen müsste das Korfu sein, ich meine sogar vor kurzem Korfu – Stadt aufgrund der markanten Festungsanlage erkannt zu haben. Der Pilot fliegt allerdings weiter stur nach Süden. Ich hege den Verdacht, dass die Musical – Crew mit der Lektüre des Librettos für ihr nächstes Engagement beschäftigt ist und erst wieder über Ost – Lybien auf die Instrumente schaut. Seit Zagreb sind die mir irgendwie nicht ganz geheuer. Gerade überlege ich, wie ein entsprechendes Alarmszenario meinerseits aussehen könnte, mir kommen bereits die ganzen Flugkatastrophen – Filmklassiker in den Sinn, da schwenkt die Maschine stark nach links ein und fliegt dann auf der anderen Seite der Insel zurück. Wusst´ ich´s doch! Jetzt sind wir schon so niedrig, dass ich mich kaum noch über meine Geliebte beugen muss, um hinaus zu sehen. Ich mache es trotzdem. Sie riecht halt gut.
Wieder erscheint Korfu – Stadt , wir fliegen abermals vorbei, diesmal nach Norden. Haben wir irrtümlich einen Rundflug gebucht, oder sollte sich hier etwa das nächste Mysterium ankündigen? Es wabern allerdings keine Nebelschwaden. Also, nein! Dafür unvermittelt eine scharfe Linkskurve über dem Meer, zwei Minuten später über bebautes Terrain, so tief, dass man den Kaffeesatz in den Tassen der Bewohner erkennen kann, und schon ist alles vorbei, die Maschinen heulen im Gegenschub, einige Passagiere klatschen. Okay, die Musicaldarsteller nehmen den Beifall ungerührt entgegen, Routine. Also, eine kleine Verbeugung hätte ich mir schon gewünscht.
Der Flughafen ist niedlich. Man hat hier eine Landebahn in eine kleine Bucht neben der Stadt betoniert, quasi auf Meeresspiegelniveau. Ich sag mal, da dürfen die Polkappen nicht mehr allzu viel abschmelzen, sonst wird aus Korfu – International ein Freibad. Das Rollfeld überschreitet insgesamt kaum die Grösse eines Baumarkt – Parkplatzes in der Wetterau. Immerhin steht ein weiterer Jet dort. Das sind satte 100% mehr, als auf Zagreb – International. Respekt! Aber ein Vorteil ist sofort augenfällig, man hat es nicht so weit, weder vom Flugzeug zum Gebäude, noch von demselben in die Stadt. Eigentlich könnten wir komplett zu Fuss gehen, wenn da nicht das Gepäck wäre.
In der überschaubaren Halle steht ein Mann mittleren Alters mit Stirnglatze und kariertem Hemd und hält ein Schild mit meinem Namen hoch. Wow, das hatte ich noch nie. Und ausserdem völlig vergessen, dass ich dieses Angebot gebucht hatte. Aber gut, einmal ist immer das erste mal, man  fühlt sich auf jeden Fall wahrgenommen.
Wir verständigen uns in diesem herrlich akzentbelasteten Urlaubs – Englisch, das scheinbar jeder auf dieser Welt kann. Er meint, er sei der Taxifahrer, die Fahrt dauere ungefähr fünf Minuten. Er könne aber nicht direkt vor die Tür fahren, not possible, warum auch immer. Nach der kurzen Fahrt (fünf Minuten ist nicht untertrieben) wird klar, was er versucht hatte anzudeuten. Wir befinden uns in einer verwinkelten Altstadt, die für den Strassenverkehr denkbar ungeeignet ist. Er lässt uns an einer Ecke raus und erklärt, es komme jemand, quickly, quickly. Ich entrichte den Fahrpreis, der sich, wenn ich ehrlich bin, mehr nach fünfzehn Minuten Fahrt anfühlt. Egal. Ich sage nichts.
Tatsächlich kommt dann jemand (aber nur mässig quickly), eine junge Frau, sehr freundliches Akzent – Englisch, und zwei Ecken weiter beziehen wir ruckizucki unser Appartement, zwei Zimmer, Dusche, dritte Etage, Altbau … – läuft doch!
Die Stimmung ist gut. Ich unterdrücke mein Misstrauen ob des geradezu reibungslosen Ablaufes unserer Ankunft und schlage den Besuch eines Restaurants in der Umgebung vor. Das Dämmerlicht kündigt bereits den Abend an. Ein Umstand, der Nana regelmässig in Ekstase versetzt, also, das Licht, nicht der bevorstehende Gaststättenbesuch. Jetzt ist das beste Licht zum fotografieren, gibt sie dann gebetsmühlenartig bekannt, um anschliessend für Stunden mit der Kamera zu verschwinden. Mein Magen tut gerade anderes kund. Wir einigen uns auf einen Kompromiss, ich lade sie zum Essen ein, sie geht morgen erst los.
Wir erreichen nach ein paar Metern einen mässig belebten Platz mit aussreichend gastronomischem Angebot. Die klimatischen Verhältnisse lassen einen Aufenthalt im Freien zu, wenn man eine (Übergangs-) Jacke überzieht. Insgesamt habe ich mir etwas höhere Aussentemperaturen vorgestellt. Aber immerhin, es regnet nicht. Und wenn dann irgendwann ein Tintenfisch oder ähnliches vor mir liegt, setzt mit sofortiger Wirkung das entspannte Urlaubsgefühl ein. Nana wirkt auch gelöst und sieht ausserdem bezaubernd aus. Es ist die Formkraft der Glückserwartung, die Frauen schön macht, schrieb einmal ein geschätzter Kollege, ich glaube es war Wilhelm Genazino. Schlaumeier.
Ich giesse Wein nach. Eine dreadlockige Ausführung des jungen Alexis Sorbas gibt auf einer schlecht gestimmten Gitarre eine Zusammenfassung der nervigsten griechischen Folklore – Kracher zum Besten. Ich frage mich, ob das schon unter die Genfer Konvention fällt.
Auf dem nahen Kirchturm kündet ein Käuzchen von sich zusammenbrauendem Ungemach. Mag es nur ein winzig kleines Gewitter sein, das flüchtig polternd unser Idyll streift, oder gar die kreischende Apokalypse, die höchstpersönlich ihre Aufwartung macht? Wir jedenfalls ahnen nichts, als wir Hand in Hand die malerischen Gassen durchstreifen, um dann in unserem neuen Domizil unschuldig wie Kinder die Vorhänge des Schlafgemachs zu schliessen.
Es ist so etwas wie Blasmusik, dass mich aus süsser Umarmung erwachen lässt, von Ferne zwar, aber gänzlich unerwartet in diesem Umfeld. Der Tag ist bereits angebrochen, wenn auch noch nicht allzu fortgeschritten, kein Grund also, sich zu beschweren. Nana räkelt sich. Die Zeichen stehen auf Koffein. Ich pflege den Morgen gerne mit einem Espresso oder Cappuccino anzukurbeln, bei Aufenthalten in mediteranen Gefilden unbedingt aushäusig. Nach zügiger Ausführung der allernötigsten Restaurierungsarbeiten ist das Erscheinungsbild einigermassen ansehnlich und wir begeben uns in ein nahes Strassencafe. Es ist kaum noch Platz. Im Vergleich zu gestern scheint sowieso eine enorme Zunahme an Betriebsamkeit auf der Strasse stattgefunden zu haben. Na, da wird wohl irgendein Wochenend – Remmidemmi angekündigt sein, denke ich, ohne ein wirkliches Ausmass einschätzen zu können. Der Kaffee dampft, was soll ich mir Gedanken machen, wir beginnen unsere Tagesplanung.
Das Konzept steht relativ schnell, es ist ein ebenso simples, wie bewährtes Modell, bereits auf verschiedensten Exkursionen erfolgreich erprobt: Nana und Fotoapparat rennen los, ich hinterher. So lerne ich innerhalb weniger Stunden die gesamte Altstadt nebst Neustadt und Vorstadt (ggfs. auch Nachbar – und Partnerstädte) kennen. Bisweilen hat mein dandyhaftes Schuhwerk mich auf halber Strecke aussteigen lassen, aber das wurde mir nie übelgenommen. Man muss gelegentlich die richtigen Prioritäten setzen können. Diesmal halte ich durch.
Also, um hier mal die Funktion eines Reiseführers einzunehmen, das ist schon ein ganz netter Flecken, dieses Korfu – Stadt, malerisch auf einem Hügel gelegen, geprägt durch venezianischen Baustil, von zwei ordentlichen Festungen flankiert – mein fachlich fundierte Expertise lautet: dakammerschommahinfahrn.
Nur, Obacht, man sollte die richtige Reisezeit wählen. Wir beschliessen, vom Hafen kommend, den Altstadtberg für heute ein letztes mal zu erklimmen, etwas erschöpft, aber gut gelaunt, um uns in unserem Domizil etwas frisch zu machen und erwartungsfroh den Abendvergnügungen entgegen zu blicken. Schon die Reisebusdichte vorhin am Hafen erschien mir verdächtig. Irgendwas ist im Busche. Im Inneren des Gassengewirrs fühle ich mich endgültig bestätigt. Es wimmelt nur so von lebhaften Griechen jeden Alters. Eine Blaskapelle kreuzt unseren Weg mit ungeheurem Radau. Was haben die alle vor, wo liegt der tiefere Sinn? Fragen, die augenblicklich der Antwort bedürfen. Wir lassen uns auf die Stufen vor einer Kirche sinken.
Ja, ja, dereinst wie heute, in der Not tritt der von Zweifel geplagte Mensch in Kontakt mit dem Herrn, nur heisst der heutzutage Google, nicht mehr Gott, Jehova, oder Maradonna, und einige Gebetslängen weiter bekomme ich tatsächlich ein Netz für die erforderlichen Informationen, die wie Fische im digitalen Ozean umherirren, bereit, unzerkleinert geschluckt zu werden und sich abzulagern in unseren verwundbaren Seelen mit all ihren quecksilberhaltigen Bestandteilen. Und Mikroplastik, nicht zu vergessen.
Jedenfalls, die Vielzahl der viralen Informationen lässt nur einen Schluss zu, es handelt sich bei diesem Event offensichtlich um den grossen Osterauftrieb der griechisch – orthodoxen Glaubensherde. Und damit nicht genug, Korfu gilt dabei als Hot Spot des klerikalen Rambazamba. Wenn du als Grieche sozusagen mal richtig auf die österliche Kacke, bzw. das Osterei hauen willst, dann hier und heute. Die Menge an Ritualen und Bräuchen, die auf dem Bildschirm meines Smartphones dazu auftauchen, übersteigt das Fassungsvermögen meiner Festplatte. Wahnsinn, das wollen die alles auf einmal abhandeln, hier und heute, an diesem Wochenende, unfassbar. Hölle, Hölle, Hölle, wie die schlichtere Volksseele das auszudrücken vermag. Der geneigte Leser merkt vielleicht, ich bin dem Religiösen wenig zugetan.
Weiterhin erfahren wir, dass die zeitliche Verschiebung zu dem uns bekannten Osterfest bei uns daheim in der Anwendung unterschiedlicher Kalender begründet ist. Die einen nehmen den Gregorianischen, die anderen den Julianischen. Herzlichen Glückwunsch. Ich möchte gar nicht weiter auseinander klabustern, wer jetzt welchen warum nimmt, es ist mir, ehrlich gesagt, auch schnurz, aber nur soviel sei gesagt, die einen hinken den anderen um ca. 13 Tage hinterher. Stand: heute. Und diese Zeitschere wird sich im Laufe der Jahrtausende weiter auseinander bewegen. Irgendwann hängt Ostern wahrscheinlich direkt Weihnachten auf der Pelle. Das wird der Einzelhandel auf keinen Fall mitmachen, soviel ist sicher (…wen´s interessiert, zu den Kalendern gibt es genug Material inner -  und ausserhalb des Netzes). Aber mal Hand auf´s Herz, liebe Freunde, wer von euch hat es bei Planung einer banalen kleinen Urlaubsfahrt wirklich im Blick, wo und wann auf dieser Welt sich der reale Irrsinn gerade zusammenballt? Und nach welchem Kalender fliegen eigentlich österreichische Musical – Airlines. Na, bitte!
Wir kämpfen uns weiter durch die zähe Masse der spirituell Teilzeitbewegten und erreichen unser Ziel noch vor Mitternacht. Glücklicherweise hatten wir schon ausserhalb der Altstadt etwas zu uns genommen, denn heute Abend wäre das mutmasslich kein Vergnügen mehr geworden. Ich berufe eine Krisensitzung ein. Nach engagierter Debatte mit einer am Vortag eingelagerten Flasche Wein vertagt sich das Gremium ins Bett. Es soll die Entwicklung der Geschehnisse am morgigen Tag aufmerksam beobachtet werden und ggfs. in Rücksprache mit allen Parteien entsprechend zielführende Massnahmen eingeleitet werden. Ein tragfähiger Kompromiss.
Der Morgen sieht zunächst wie der vorherige aus. Es ist noch früh, vereinzelte Regentropfen, leicht bewölkt. Nur der diffuse Geräuschpegel scheint angehoben, Blasmusik mit Trommeln, Trommeln mit Blasmusik, irgendwo hier in der Gegend. Es ist ja nicht so, dass da temperamentvolle Sambarythmen zum besten gegeben werden, nein, alles klingt getragen und schwermütig.
Mich dürstet nach Kaffee. Nana auch. Unser erster Versuch, das bekannte nahegelegene Cafe aufzusuchen, erweist sich als illusorisch. Der Laden ist gerammelt voll, draussen wie drinnen. Nana meint, über den grossen Platz vor der alten Festung könne man flink die Promenade erreichen, wo garantiert ein entsprechendes Ersatz – Etablissement zur Verfügung stünde. Gesagt, getan.
Die Lage unseres Appartments ermöglicht uns in der Tat über eine Nebengasse auf jenen langgestreckten Platz zu gelangen, die oder der sogenannte Spianada. Das Ding liegt auf einem kleinen Hochplateau, hat ein bisschen was von Stadtpark, mit grossen Rasenflächen, Bäumen an den Rändern, einem Parkplatz, einer Strasse drumherum. Zur Wasserseite hin gelangt man auf die vorgelagerte alte Festung, den nördlichen Rand bildet der alter Gouverneurspalast, am westlichen Rand beginnt sozusagen die Stadt mit einer Promenade stattlicher alter Bürgerhäusern, teils auf breiten Arkaden, die weitgehend von der Gastronomie in Beschlag genommen werden – unser Ziel!
Die Menge der geparkten Autos lässt allerdings schon Ungemach erahnen. Meine Hoffnung auf ein belebendes  Heissgetränk zerschellt jäh an dem sich bietenden Anblick. Halb, nein, ich korrigiere mich, ganz Griechenland, vermutlich sogar inklusive Nord – Mazedoniens und Süd – Albaniens, scheint sich auf jenen wenigen hundert Metern eingefunden zu haben. Warum? Was wollt ihr? Um irgendeinem mysteriösen spirituellen Kult Folge zu leisten böte sich doch auch noch der ganze Nachmittag an. Nebelschwaden wabern. Also, nicht wirklich, die wabern aber garantiert gleich in meinem Kopf, wenn ich nicht bald einen Espresso kriege.
In Richtung des Gouverneurs – Schuppen tut sich was. Nana hat Witterung aufgenommen. Die Kamera ist bereits gezückt. Ein schlechtes Zeichen für Koffeinentzugpatienten.
Mit lautem Getöse nähert sich offenbar eine Prozession. Den Kopf des Umzugs bildet ein Triumphirat, bestehend aus einem Mann mittleren Alters im dunklen Anzug, flankiert von 2 zottelbärtigen Kirchenfürsten in langen Talaren und mit schwarzer Ortho – Cap (Ortho – Cap.: Abkürzung für Kopfbedeckung griechisch – orthodoxer Kirchenmänner). Der Mittelmann sieht aus wie der Bürgermeister, und guckt aus der Wäsche, als hätte ihm gerade ein Schwarm Seemöven auf den SUV geschissen. Der eine Kirchenmann trägt eine Art Monstranz, vielleicht Reliquienschrein, der andere eine Fahne aus schwerem Stoff. Dahinter marschiert eines dieser teuflischen Radau – Orchester, die sich seit gestern seuchenartig in diesem Ort ausgebreitet zu haben scheinen. Ich bin mir ziemlich sicher, ich wohne gerade einem dieser zahllosen seltsamen Brauchtümer bei, die ich gestern gegoogelt und umgehend vergessen habe.
Nana fotografiert, und fotografiert, und als sie dann immer noch fotografiert, kommt mir eine Idee.
Ich mache den Vorschlag, demnächst zurück zu gehen. Da ja alle Griechen dieser Welt aktuell an diesem Platz verweilen würden, spekuliere ich mal ins Blaue, könnte es gut sein, dass unser Cafe um die Ecke jetzt leer ist. Und wenn nicht, gehen wir halt in die Neustadt. Sie willigt ein. Ich seufze erleichtert.
Es ist unglaublich. Innerer Jubel brandet in mir auf. Ich beschleunige unwillkürlich meinen Schritt. Yes! Es ist leer, nobody in there, nennt mich den Meister der Intuition. Das wird mein Tag.
Wir sinken vor einem der Tische in erster Reihe auf die Stühle. Der Kellner kommt, wir bestellen. Tschaka!
Nachdem die dritte Kapelle vorbei marschiert ist, wird es stiller. Auch die handvoll Gäste, die vorher noch da sassen, schleicht sich langsam von dannen. Geht ihr nur, denke ich, um die Ecke wartet bestimmt der nächste rituelle Hokuspokus. Aber diesmal ohne mich. Ich führe den frischen Cappuccino gerade zum Munde, da geschieht es.
Aus dem Nichts schlägt die Granate ein. Äh, oder sowas ähnliches. Genau genommen ist es ein rotes Keramikteil mit Wasser gefüllt, von einem der oberen Stockwerke abgeworfen, welches in etwa drei Meter Entfernung dumpf auf der Gasse zerbirst. Ich erstarre in meiner gerade eingenommenen Haltung, die Lippen genussvoll gespitzt den heissen Kaffee zu schlürfen. Sekunden später knallt der nächste Topf auf das Pflaster. Ein Wasserspritzer streift meine Stirn, ein Streifschuss nur, kein Blut, Gottseidank. In der Ferne grollt Geschützdonner. Irgendwo in der Nähe knallen Sylvesterböller, oder Gewehrschüsse? Wer weiss das schon so genau. Der Kellner im inneren des Cafes gibt mir gestenreich zu verstehen, ich solle etwas in Richtung Hauswand zurückweichen. Dabei scheint er sich ausgesprochen zu amüsieren, was ich seinem derart unverschämten Grinsen entnehme. Als ich dann unter einem Tisch Schutz suche, kriegt er sich kaum noch ein.
Wo ist Nana? Eben sass sie noch da. Hastig spähe ich unter dem Tisch hervor. Dunkle Gedanken vernebeln den klaren Verstand, eine Pulverdampfwolke zieht vorbei (waber, waber). Sollte hier schon alles zu Ende gehen? Nana, entführt von religiösen Fanatikern, zappt es durch meinen überlasteten Arbeitsspeicher. Man liest ja soviel. Ich robbe mich nach vorne und blicke die Gasse entlang, nach rechts, nach links. Der Kellner kämpft mit dem Lachkrampf. Arschloch!
Zwei weitere Kallebassen schlagen in unmittelbarer Nähe ein. Doch da, schräg gegenüber, an die Hauswand gepresst – Nana! Soweit ich sehe, unverletzt, die Haare im Wind, die Kamera im Anschlag. Wie eine Katze turnt sie sogleich durch die Trümmerfelder auf der Strasse, mal in gebückter Haltung, mal gestreckt,  mal schlangengleich flach auf dem Bauch. Die Kriegsberichterstatterin im Mörsergewitter. Meine Nana!
Ein grosser Hund, irgendwas zwischen Lassie und Rasputin, rennt mit gehetztem Blick und eingezogenem Schwanz die Gasse entlang. Wenig später ächzt eine dicke Frau hinterher, unablässig einen unverständlichen Namen ausrufend. Na, der ist erstmal weit weg, junge Frau, rufe ich ihr nach.  
Der Bombenhagel hat nachgelassen. Ich beruhige mich. Der Kellner wischt sich die Tränen von den Wangen. Ich erkenne an den roten Scherben die Krüge, die in der ganzen Stadt von fliegenden Händlern feilgeboten wurden. Ich hatte das für extrem hässliche Souveniers gehalten. So kann man sich irren. Alles nur religiöser Wahn. Hatte ich schon erwähnt, dass ich dem religiösen nicht so … – ah, hatte ich schon.
Nana findet sich auch wieder ein. Etwas ausser Atem, aber mit diesem glücklichen Glitzern in den Augen, dass ich so an ihr liebe. Obwohl sie ja auch einem Wahn verfallen ist, wenn man es recht betrachtet. Ach ja, der Wahnsinn greift doch immer mehr Raum in diesen Tagen, auf dieser Welt, und überhaupt ... Ich bestelle 2 Ouzo. Der Kellner bedeutet mir, die gingen auf´s Haus. Dabei lacht er schon wieder. Das ist echt Wahnsinn!
Die Gemüter, wo auch immer sie rumgezündelt haben, haben sich offenbar beruhigt, das Cafe füllt sich langsam. Eine Blaskapelle zieht atonal vorbei. Wir halten Kriegsrat. Ich stelle den Antrag, den Kessel von Korfu – Stadt zu verlassen und nach Süden durchzubrechen. Nana ist dabei. Es gelingt uns in Nähe des Flughafens ein brauchbares Gefährt zu mobilisieren, einer dieser typischen südeuropäischen Kleinwagen, die es auf nahezu allen Inseln des mediteranen Raumes zur Miete gibt. Das passt! Wir durchstossen um die Mittagszeit unbehelligt die Stadtgrenze und fühlen uns frei, entspannt, schwerelos. Leider gibt sich das Wetter nicht ganz die erhoffte Mühe, es spielt enthemmt auf allen Lagen seiner Klaviatur: Wolkenfetzen – Sonne – Wolkenfetzen – Regen – Wind – Wolkenfetzen – Tideldi – Tidelda.  Uns ist es egal, wir fahren durch sanfte Hügel in frühlingshaftem Grün, auf abgelegenen Landstrassen durch verschlafene Orte. Wir essen in einem nicht – überfüllten Restaurant eine erschwingliche Mahlzeit. Und keine Blaskapelle, nirgendwo. Ab und zu lassen sich ein paar rote Scherben auf dem Boden finden und künden von jenen gar sonderbaren Ritualen der Eingeborenen, die zu fliehen uns nötigten. Aber das ist vorbei.
Nach unbehelligter Runde durch ländliche Gefilde kehren wir am Abend zum Brennpunkt zurück. Es dauert eine Weile, bis wir einen Parkplatz finden. Das deutet auf eine weiterhin maximale Präsenz des klerikalen Feiervolkes hin. Ich bemerke eine leichte Verhärtung der Nackenmuskulatur, Nana zuckt nervös in den Augenwinkeln. Wir verlassen hastig unser Fahrzeug und huschen zwischen lautstarken Blaskapellen und erschöpften Betrunkenen, wahlweise zwischen erschöpften Blaskapellen und lautstarken Betrunkenen, zu unserer Unterkunft.
Es ist, wie es ist. Wir sind ja quasi erst auf der Insel eingetroffen, dennoch ist es bereits angezeigt, die nächste Krisensitzung einzuberufen. Die Fakten sind schnell und klar umrissen, es gibt per annum  zwei diametral entgegengesetzte Wirkpole auf diesem Eiland, der julianisch verzerrte Osterwahn und wir. Beides rast mit unbeherrschbarer Energie aufeinander zu und könnte, wenn man es jetzt  ganz düster prognostizieren würde, in eines dieser nostradamischen Weltuntergangsszenarien münden, die bisher zwar nie eingetreten sind, aber, man weiss ja nie …
Die 16 Dosen Bier von der Tankstelle sind längst unsere Kehlen hinabgeperlt, da steht der Entschluss fest: Flucht. Man darf dies allerdings keinesfalls als Eingeständnis der Niederlage interpretieren, sondern als rein vernunftbedingte taktische Massnahme, um dann ggfs. heimtückisch zurückzuschlagen, oder auch nicht.
Wir müssen in Klamotten eingeschlafen sein. Meine Zunge ist etwas pelzig. Nana schnarcht. Ich bewege mich schwerfällig in Richtung Toilette. Der Morgen graut. Im Hintergrund ist etwas Blasmusik zu hören. Mir ist etwas flau.
Dennoch, ich halte mich akribisch an unseren Plan. Ich wecke Nana. Sie verflucht mich. Das war zwar nicht der Plan, aber ist durchaus plausibel. Nachdem wir uns wieder einigermassen in einen  brauchbaren Betriebszustand versetzt haben, verlassen wir das Haus, zwei schemenhafte Gestalten in geduckter Haltung die Hauswand entlang, Keramikreste knirschen unter den eiligen Schritten. Nach einigen hundert Metern erreichen wir die Strasse, die von einer niedrigen Mauer vom Meer getrennt wird. Alles ist ruhig. Auf dem Mäuerchen steckt jemand mit dem Kopf im Schalltrichter einer Tuba. Zwei Körper, die achtlos zurückgelassen scheinen, bewegungslos ineinander verschlungen, wie versteinert. Oder tot? Ein bizarres Ensemble.
Das Meer gurgelt schelmenhaft um das steinige Ufer. Wir beschleunigen nochmals unseren Gang. Unser rumänisch – französischer Kleinwagen steht glanzlos im fahlen Licht der Dämmerung. Er springt sofort an. Herr, wir danken dir!
Kurz nach der Ortsgrenze halten wir an einer Tankstelle. Der Kaffee ist lausig, die Stimmung ist aufgekratzt. Die Insel scheint noch zu schlafen. Wir hoffen, dass das zumindest auf Blasorchester zutrifft, die hier offenbar in exorbitanter Menge beheimatet sind. Wir wissen es nicht. Wir wollen es nicht wissen –  toi toi toi! Es bestätigt sich der Eindruck vom Vortag, sobald man das osterwahnsinnige Korfu – Stadt verlässt, verwandelt sich die Umgebung gern mal in eine mediteranes Kleinod. Wir fahren nördlich ins Gebirge. Es geht teilweise steil nach oben durch sattes Grün. Wie schon die Tage zuvor, es könnte wärmer sein, aber es ist noch früh am Tag und das Wetter ist halt launisch. Wir halten immer wieder an, um die Landschaft zu würdigen. Nana fotografiert, was sonst. Ich hänge allerlei Gedanken nach. Mir wird klar, dass der verzwirbelte Anflug der Musical – Airline beileibe kein Mysterium ist, sondern dem Gebirge geschuldet, das hier bis zu 1000 Meter hoch nördlich des Flughafens liegt. Die Frage wäre, ob Slatko, der Himmelhund, es trotzdem probiert hätte, im Sturzflug, oder vielleicht links davon im Tiefflug durch die Meerenge zwischen Albanien im Kugelhagel der Partisanen … –  gut, da geht jetzt was mit mir durch, fürchte ich. Hat eigentlich mal jemand die Spätfolgen von Blasmusik untersucht?
Wir finden eine Art Ausflugslokal an diesem zeitversetzten Ostersonntag, und wie sollte es anders sein, alles ist reserviert, obwohl noch kein Mensch da sitzt. Die Wirtsleute sind allerdings so nett, uns noch irgendwo dazwischen einen Katzentisch aufzustellen. Und ähnlich wie am Vortag, das Essen ist gut und nicht teuer. Im Kamin knistern behaglich die Holzscheite, befeuern ein trügerisches Hochgefühl. Nana sieht ein weiteres mal ganz bezaubernd aus. Ja, Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander, ja, und jetzt denke ich, ist der Moment gekommen, jetzt, wann sonst sollte ich ihr einen Heiratsantrrr … – im Augenwinkel sehe ich eine Tuba am Fenster vorbeiziehen. Die Stimme versagt, kalter Schweiss bricht aus, Schnappatmung und Schüttelfrost folgen auf den Fuss …
Wir beginnen spontan eine mehrstündige Gebirgswanderung auf dramatisch unzureichendem Ausrüstungsniveau. Ich erinnere mich dunkel an den durchdringenden Ruf des Waldkauzes, ansonsten weiss ich bis heute nicht, wie wir des nachts zu unserer Heimstatt zurückfanden.

Schnitt! Es ist Ostermontag im Zeitalter der lärmenden Julianer, wir wachen im Laufe des Vormittags auf. Alles ist ruhig. Die Blasen an meinen Füssen senden undeutliche Signale an mein vegetatives Nervensystem. Auf meinen Handrücken deuten blutige Kratzspuren auf erbitterte Wegerechts –  Kämpfe mit einheimischer Dornvegetation hin. Nana ist etwas zerzaust, was ihr, wie ich finde, ausgezeichnet steht.
Unser favorisiertes Kaffeehaus wirkt unbeeindruckt von jeglichem Furor und bietet uns den erforderlichen Rückhalt in Form von koffeinhaltigen Heissgetränken. Um uns herum wirkt alles weniger hektisch als gestern, fast schon ermattet. Die überschaubare Anzahl der Gäste unterhält sich in gedämpfter Lautstärke. Ich bemerke, dass keinerlei Orchestergeräusche zu vernehmen sind, weder in der näheren Umgebung, noch in der Ferne. Sollte der christliche Eiertanz ein Ende gefunden haben? Ein Rest Misstrauen ist geblieben, dennoch, die Entspannung in der Atmosphäre ist seltsam greifbar. Ein paar Sperlinge erbeuten die Krümel eines Croissant unter dem Tisch. Verspielt tauche ich meine Nase in das Sahnehäubchen des Cappuccino. Ein offensichtlich religiöser Würdenträger (Ortho – Cap, bodenlanger Talar) mit grauem Rauschebart kommt die Gasse entlang. Die Leute grüssen erfreut, der Priester zurück, Hände werden geschüttelt, nebenbei, sozusagen aus der Hüfte, segnet er noch das ein oder andere Anwesen, auch das Cafe inklusive der Gäste. Souverän irgendwie. Ich gebe es nicht gern zu, aber mich beruhigt das irgendwie, ich gerate fast in eine besinnliche Stimmung. Nana schaut auch etwas verklärt aus der Wäsche.
Gedanken an die letzten Tage ziehen durch meinen Kopf. Ist es schon Zeit ein Fazit zu ziehen? Muss überhaupt ein Fazit gezogen werden? Für Übermorgen ist die Weiterfahrt sowieso geplant.
Dakammerschommahinfahrn, beschied ich erst kürzlich. Tzz tzz tzz, na ja, sagen wir mal so, ist schon irgendwie in Ordnung, aber besser keine Heiratsanträge, ab Mai vielleicht …
Nana hat einen Plan. Das merke ich sofort. Sie bearbeitet ihr Smartphone und schaut zwischendurch verschwörerisch zu mir herüber. Erfahrungsgemäss kann jetzt alles passieren zwischen Kreuzigung und Auferstehung. Einen Moment noch, demnächst wird sie damit herausrücken. Meistens beginnt der Satz dann mit „Liebling“. Das soll so eine positive Grundstimmung für meine Bewertung generieren. Tut es auch, da bin ich doch immernoch „verliebter Trottel“.
Tattaaa, die Fanfare erklingt, es ist soweit: „Liebling, was hälst du davon, wenn wir schon morgen auf´s Festland übersetzen?“
Eigentlich ist das konzeptionell nicht als Frage vorgesehen, aber so klingt es halt mehr nach Demokratie. Es folgen eine Reihe von Erläuterungen, es sei da etwas wärmer und würde nicht regnen, wir hätten ja eh schon alles hier gesehen, sie könnte den Bus ganz easy reservieren und auch das Appartment in Elefsina, und und und ... Ich tue kurz so, als würde ich nachdenken, dann stimme ich zu. Wir rufen gleich das Taxi an, das uns in aller Frühe zum Fährhafen bringen soll. Warum noch lange rummachen, Nägel mit Köpfen!
Eigentlich läuft ab jetzt alles geschmeidig, wenn man mal von meinem Laufstil (die Blasen, verdammt!) absieht. Wir nehmen Abschied von Kerkyra. Das Restaurant des Abends ist eine Pizzeria, der Betreiber ein Asiate, die Katzen griechisch. Die Weingläser funkeln purpurn im Kerzenlicht und ich könnte einen neuen Versuch starten, ploppt es kurz in mir auf. Ach nein, nicht ungeduldig werden, es muss schon alles passen.
Am nächsten Morgen, es ist nach meinem Verständnis noch tiefste Nacht, beginnt das gewohnte  Abfahrtsprozedere. Also, hauptsächlich das von Nana. Bei mir geht das in der Regel bedeutend zügiger, das Ergebnis ist natürlich entsprechend: ausreichend. So wie damals in der Schule. Man könnte auch sagen, mental wie physisch leicht zerknittert. Mehr muss nicht!
Wir haben noch reichlich Zeit bis zur avisierten Ankunft des Chauffeurs, also packen wir unsere sieben Sachen, lassen die Tür ins Schloss fallen und gehen ins Cafe. Bye bye, Kerkyra …
Eigentlich sollte das Kapitel hier enden, eigentlich. Aber wer legt denn wirklich fest, wo etwas anfängt, wo etwas aufhört, warum wir sind, woher wir kamen, wohin wir gehen. Ja, ich gebe zu, es gab die Versuchung, hier ein längeres philosophisches Kapitel einzupflegen, eine tiefschürfende Abhandlung über Sinn und Unsinn unseres Daseins, ja sogar Gott anzurufen, oder Allah, Jehova, oder vielleicht gar Manitou, nur um endlich eine Antwort zu finden, zu ergründen, warum dies alles? Und warum geht das alles immer so weiter?
Wir sind die ersten Gäste, zusammen mit drei städtischen Müllmännern. Die Espressos kommen flugs und heiss. Wir verabschieden uns vom Kellner in lustigem Englisch, ja, wir sind dem Leben milde und zuversichtlich zugewandt.
Doch dann aus dem Nichts, Nana wird aschfahl. Es ist ein Gesichtsausdruck, den ich so gut kenne, wie verabscheue. Er macht mir Angst. Es ist dieser Ausdruck des blutüberströmten, gehetzten Wildtieres, des Todesengels vom Stern der ewigen Verdammnis, und der bösen Schwiegermutter, alles in einem. Mit eisiger Stimme, und knapp fünf Oktaven tiefer, stellt sie die Schicksalsfrage: „Wo ist eigentlich das Akku – Ladegerät von meiner Kamera?“
Ein Eiszapfen bohrt sich in mein Herz. Ich erstarre zur Salzsäule mit Tasse in der Hand (bereits das 2. mal auf dieser Reise und immer im selben Cafe).
Nun wird der ein oder andere zu Bedenken geben, ein Akku – Ladegerät kann doch kein Drama sein, da kauft man einfach ein Neues. Weit gefehlt. Das fällt nämlich in den Spezial – Bereich des Spezial – Zubehörs für Spezial – High – Tech – Geräte und ist erstens nicht an jeder Ecke erhältlich und liegt  zweitens in den Anschaffungskosten knapp unterhalb einer Einbauküche.
Lange Rede, kurzer Sinn, das Ladeteil mit Reserveakku hängt sozusagen dienstbereit an der Steckdose in der verlassenen Wohnung, der Schlüssel leider auch, was folglich bedeutet, die Kamera wäre zu baldiger Untätigkeit verdammt – sozusagen das sterbende Auge der Sehenden! – was Nana den Anwesenden nun in inbrünstigem Funny – English begreiflich zu machen sucht.
Jetzt kommt aber Leben in die Bude, ein Leben, dem so manch sensibles Gemüt zur frühen Stunde eher nicht gewachsen ist, konstatiere ich selbstvergessen, und verharre zunächst weiter in meiner Apathie – Schutzhaltung. Es gibt zudem  Überlegungen dahingehend, dass möglicherweise der Bestand meiner Blutdruckmedikamente für diese Exkursion ein wenig zu gering dimensioniert sein könnte. Die Frage bleibt offen. Dann bewegt mich noch die Ungewissheit, ob die Fähre zum Festland jemals ihr Ziel erreichen wird, oder ob eventuell dieses kleine Missgeschick als Wink der Götter zu verstehen ist, der uns vor einem jähen Ende in den eisigen Tiefen des Ionischen Meeres bewahren soll. Ich höre Celin Dion bereits im Hintergrund anschwellen.
Es kommen allmählich immer mehr Leute zusammen, aus angrenzenden Geschäften, Wohnungen, oder einfach nur Passanten. Es werden Ideen entwickelt, Vorschläge gemacht, telefoniert, Kaffee getrunken und gesungen, nur, am Ergebnis ändert sich rein garnichts. Zu guter Letzt steht auch unser Taxifahrer mit im Pulk und meint, wir sollten langsam mal hin machen. Machen wir dann auch.
Erstaunlich ist, wie Nana von hier auf jetzt wieder auf fröhlichen Alltagsmodus schaltet. Ach, alles halb so wild, in Athen da liesse sich hundert pro was arrangieren, gibt sie zum Besten. Sie lächelt  zuversichtlich. Ich dagegen werde vom Taxifahrer etwas gestützt, als wir zum Auto gehen.
Wir erreichen die Fähre kurz vor dem Auslaufen. Wie ich bemerke, reist auch das ein oder andere Blasorchester mit. Sie sehen müde aus, die Musikanten. Und vor allem, sie bleiben geräuschlos, was mein angeschlagenes Nervenkostüm voll Dankbarkeit mit ein paar Tränen goutiert.
Die Fähre fährt los, der Aufenthaltsraum ist rappelvoll. Ich bestelle ein Getränk am Kiosk. Es soll vermutlich Cappuccino sein. Wer weiss das schon. Nana hält meine Hand und schickt mir ein paar besorgte Blicke zu. Ich signalisiere mimisch Übersicht und Entschlossenheit nur durch das geschickte Spiel meiner Mundwinkel. Das kenne ich aus älteren amerikanischen Spielfilmen. Sie wirkt verständnisvoll amüsiert.
Dann verlasse ich den Raum festen Schrittes und suche aussen den höchsten Punkt des Schiffes auf, der für Passagiere erreichbar ist. Der Wind weht mir eine graue Strähne ins Gesicht. Der Diesel zieht entschlossen stampfend seine Furche durch die unergründliche See. Mein verwegener Blick geht gen Horizont, Süd – Südost, Igoumenitsa. Ich rücke meinen Schal zurecht und ziehe den Rettungsring hoch, den ich kurz vorher aufgeblasen habe. Da ist leider vorne ein Entenkopf drauf, hinten so eine Art Bürzel. War halt im Angebot. Egal.
Einige Menschen gehen vorbei und raunen verwundert, die Kinder lachen. Niemand soll sagen können, ich wäre nicht vorbereitet gewesen.
Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 3 – Road Movie

Igoumenitsa – ja, was soll ich da sagen? Da fährt die Fähre hin. Also, pfff, es ist schwer diesen Ort zu beschreiben. Wenn man ankommt, möchte man eigentlich noch schneller wieder weg. Vielleicht könnte man sagen, das Bielefeld Nordgriechenlands, aber das würde möglicherweise Bielefeld diskreditieren. Nein, ich muss hier eines ganz deutlich klar stellen, ich bin ein grosser Freund von Hafenstädten am Mittelmeer, aber irgendwo ist es auch mal gut. Ach, ich fang´ noch mal von Vorne an: Igoumenitsa – ja, herrgottsakra …
Die Überfahrt war weitestgehend ereignislos, bis auf den kleinen Zwischenfall, dass mich ein Matrose mehr oder weniger nachdrücklich bat, wieder vom Mast herunter zu steigen und die Luft aus meinem Rettungsring liess. Sensibel geht anders!
Nach einer guten Stunde erreicht die Fähre das griechische Festland unweit der albanischen Grenze. Aus dem Bauch des Schiffes quillt eine farbenfrohe Blech – und Passagierlawine und ergiesst sich über die Perle des Ionischen Meeres – Igoumenitsa (Ja, jetzt hab´ ich´s). Wir lassen uns im Pulk der Seereisenden an Land spülen. Es funktioniert immer ähnlich in diesen Häfen, man folgt der Herde zu irgendeinem Ausgang, ab da zerstreut sich der Haufen langsam und man muss sich allein orientieren. Unser Ziel ist vorgegeben, der Busbahnhof, und der liegt nach elektronischer Wegbeschreibung um die Ecke. An der Uferstrasse (ich vermeide absichtlich den Begriff Promenade) liegen ein paar Schnellrestaurants, dazwischen Bürogebäude, Lagerhallen oder Brachland. Es gibt hie und da bescheidene Zeugnisse einer freundlicheren Gestaltung des öffentlichen  Raumes (Blumenkübel, Palmen, befestigte Gehwege), aber die ersticken quasi in der allumfassenden Hässlichkeit ihrer Umgebung. Es ist Vormittag, die Sonne scheint, Container auf Lkws donnern an uns vorbei, eine tote Möwe liegt am rostigen Zaun des Hafengeländes. Man sollte Warnschilder für Melancholiker aufstellen. Eine Ratte zeigt mir den Vogel. Wir erreichen den Busbahnhof, oder besser gesagt die Haltestelle, in wenigen Minuten. Es gibt eine kleine Wartehalle mit Schalter und Toilette. Davor parkt ein Reisebus mit vertraueneinflössendem dreizackigen Stern auf dem Grill. Vertrauen ist wichtig, denn wir werden den grössten Teil des Tages mit/in dieser Blechbüchse verbringen. Wir bestätigen unsere Reservierung am Schalter und treten wieder hinaus in die Sonne.
Ja, denke ich, lach´ du nur, du gelbes Ding da oben. Was sollst du auch sonst tun, ausser deine verlogene Wärme über die staubige Trostlosigkeit dieses Vormittags zu giessen, während ich hier mit der wunderbarsten Frau der Welt am verlorensten Ende Griechenlands stehe, wo selbst ein erschöpfter Schiffbrüchiger sich wieder zurück ins mehr wünscht. Ich muss ein verdammt glücklicher Mann sein ...
Nana gibt mir einen Stoss in die Seite.
„Alles okay bei dir?“ –
„Aber ja, mein Stern, was soll schon sein …“ –
„Es ist noch Zeit, wir sollten uns jetzt Proviant organisieren, wer weiss, ob das unterwegs noch möglich ist.“ –
Wo sie recht hat, hat sie recht. Mein melancholischer Anflug ist damit für beendet erklärt.
Zwei Strassenecken weiter entdecken wir in einer Lagerhalle einen Supermarkt in der eher rustkialen Aufmachung eines Discounters. Das Sortiment hat stark asiatischen Einfluss, aber wir finden letztendlich alles, was wir uns vorstellen: Getränke, Obst, Knabbergebäck, Schokoriegel. Danach suchen wir eines der Schnellrestaurants auf und essen Pommes.
Am Bus ist bereits ein kleiner Auflauf. Die Gepäckfächer stehen auf, es wird geladen. Der gutgebaute Mann, der sich um die Beladung kümmert, hat uns den Rücken zugewandt und schiebt Gepäck in das Innere der Blechröhre. Ich vernehme ein leises Schnauben und einen feinen Windhauch im Bereich meines Nackens. Nana! Sie steht etwas versetzt hinter mir, die Nasenflügel leicht nach oben gezogen. Der Mann, Anfang vierzig, pefekt sitzendes weisses Hemd, Goldkettchen, schwarzes, leicht gegeltes Haar, dreht sich zu uns, beziehungsweise eher zu Nana und lächelt in etwa so, wie Kerle es tun, die wissen, dass ab jetzt kaum mehr Worte nötig sein werden.
Ein angestecktes Namensschild weist ihn als Busfahrer aus, sein Lächeln als den ultimativen greek – style Lover. Zumindest geht er davon aus. Noch bevor ich ihm unser Gepäck übergeben kann, schiebt sich eine Gruppe junger kanadischer Backpackerinnen zwischen uns und den Schönling, aufgeregt schnatternd, und, wie ich bemerke, mit den obligatorischen leicht flatternden Nasenflügeln. Ich spüre Nanas Fingernägel in meinem Unterarm. Das kann ja heiter werden. Und damit nicht genug, zwei Ordensschwestern in vollem Ornat zeigen ähnliche Symptome. Normalerweise müsste ich jetzt vom Glauben abfallen, aber, wie schon mehrfach erwähnt, das hat sich bei mir bereits anderweitig erledigt.
Stattdessen mache ich mir überwiegend weltliche Gedanken. Die Busfahrt nach Athen ist mit rund 6,5 Stunden angesetzt. Das erscheint mir angesichts fernverkehr – immanenter Unwägbarkeiten plus des neu aufgekommenen Hysteriepotentials im Passagierbereich als sehr ambitioniert. Aber haben wir eine Alternative? Umbuchen auf die Bahn, Mietwagen, Privatjet? Nein, es steht ja ausser Frage, da müssen wir jetzt durch. Ich rede mir ein, dass auch Weiberhelden Busse fahren können. Gib ihm eine faire Chance, auch wenn es schwer fällt. Immerhin hat er eine Anstellung bekommen. Ob der Führerschein gefälscht ist, mmh, – die Zweifel bleiben.
Während ich gerade noch Überlegungen anstelle, ob der Soundtrack zu dieser Fahrt eher nach  „Highway To Hell“, oder „Magic Bus“ klingt, hat Nana das Gepäck abgegeben und zerrt mich in den Bus. Es ist freie Platzwahl. Mich überrascht es nicht, dass auf den Sitzen in unmittelbarer Nähe des Fahrerplatzes die nordamerikanische Sprache dominiert, nur leicht unterbrochen von der stillen Anwesenheit der Ordensfrauen. Wir ziehen uns in den hinteren Teil zurück. Hier sitzen gottseidank auch noch ganz normale Leute. Nana scheint sich von ihrem teenagerhaften Ausreisser wieder auf Normaltemperatur runtergekühlt zu haben. Dann kann ja nichts mehr schief gehen.
Der Kapitän der Landstrasse betritt sein Gefährt. Elegant schwingt er sich auf den Fahrersitz und schiebt die Sonnenbrille in den Haaransatz. Es folgen ein paar lässig formulierte Begrüssungsworte in griechisch und englisch durch die vor Erregung heisere Sprechanlage, was den Jauchzpegel in den vorderen Reihen dramatisch anschwellen lässt. Respekt! Ich muss gestehen, dass mir die Show imponiert. In jüngeren Jahren hätte mich da sogar ein gewisser Neid ergriffen, endeten doch ähnlich angelegte Auftritte meinerseits regelmässig mit dem Verlust jeglicher Reputation in der Damenwelt. Heutzutage regiert da glücklicherweise weltmännische Gelassenheit und die Erkenntnis, dass glücklicherweise nicht jedem Mann so ein Skilehrer – Gen in die Wiege gelegt wurde. Nein, nicht jeder Mann kann ein Womanizer sein, verdammte Hacke, wo kämen wir da hin!? Nein, ich rege mich nicht auf, ich NICHT! Vielmehr beschliesse ich nochmals in aller Gelassenheit, mich nicht aufzuregen, und ihn ab sofort und immerwährend Hansi zu nennen, abgeleitet von Hansi Hinterseer, dem einzigen Skilehrer, der mir gerade in den Sinn gekommen ist.
Mit dem anwerfen des Daimler – Aggregats normalisiert sich allmählich die flirrende Atmosphäre entfesselter Hormone und es beginnt ein neues Kapitel unserer Reise durch die wunderbare Welt der  Mysterien, sozusagen ein Road – Movie, das, wie genre – üblich, weitestgehend aus langen Mittelteilen bestehen dürfte. Ich muss reflexartig gähnen.
Wir verlassen die Küste und durchqueren auf Landstrassen eine karge Mittelgebirgsszenerie, die zunehmend langweiliger wird und ich entsprechend müder. Zunächst verfolge ich noch die Landschaft. Dann zähle ich Ziegen. Nach kurzer Fahrt bereits der erste Halt im Nirgendwo. Jemand steigt zu. Meine Skepsis gegenüber der offiziell angegebenen Fahrzeit findet neue Nahrung. Ich beschliesse, den nächsten Halt gar nicht mehr mitkriegen zu wollen und nehme eine für Dämmerschlaf geeignete Kauerstellung ein, zunächst mit mässigem Erfolg, doch irgendwann dämmerts immer. Ich zähle Ziegen.
Die Maschine surrt gleichmässig. Meine Sinne kehren langsam wieder. Keine Ahnung, wie lange ich so verharrt habe. Ich blinzle aus dem Fenster und dann zu Nana. Sie konzentriert sich auf ein Buch. Ich blinzle wieder zurück aus dem Fenster, strahlendblauer Nachmittagshimmel, ein Wetter zum Helden zeugen, wie der Volksmund zu sagen pflegt. Zeugen, ja, aber nicht jetzt und nicht hier, und Helden schon mal gar nicht, das ist eher Götterangelegenheit. Dummes Zeug.
Der Bus verlangsamt die Fahrt. Offenbar biegt er von der Autobahn ab. Wir durchqueren eine Tankstelle und landen auf einem grossen Raststättenparkplatz. Hansi gibt bekannt, dass jetzt eine halbe Stunde Pause ist, man solle pünktlich zurück sein. Das Fahrzeug leert sich. Wir schleichen in den gastronomischen Teil der Anlage. Es sieht alles ungefähr so trostlos aus, wie auf einem bundesdeutschen Rasthof, nur dass das Wetter besser ist und irgendwo in der Ferne das Mittelmeer schimmert. Nach dem Besuch des Sanitärbereichs gönnen uns ein paar koffeinhaltige Heissgetränke und lungern etwas herum. Wie gesagt, der berüchtigte lange Mittelteil gibt nicht viel her. Selbst philosophische Betrachtungen hängen angesichts der Trägheit, die den gesamten Körper befallen hat, wie eine Schallplatte mit Sprung. Jedenfalls bei mir. Nana wirkt da lebhafter, aber das ist sie ja sowieso. Gottseidank.
Dann geht es weiter. Nach kurzer Fahrt überqueren wir den Golf von Korinth an seiner engsten Stelle    auf einer imposanten neuen Brücke. Rechter Hand liegt Patras, eine der grösseren Städte Griechenlands, im gleissenden Licht der Nachmittagssonne. Natürlich gibt es auch hier den obligatorischen Stopp zum Ein – und Aussteigen (so kommen wir doch nie an!). Danach wird endlich wieder ein grösseres Stück durchgefahren. Die Strecke verläuft entlang der Küste Richtung Korinth. In der Nähe von besagtem Ort, direkt am östlichen Eingang des berühmten Kanals, der den Golf von Korinth mit dem Saronischen Golf verbindet, ist dann der nächste Halt. Ich dachte früher immer, der sogenannte Isthmus von Korinth wäre der Kanal selbst. Stimmt aber nicht, mit Isthmus bezeichnet man die Landenge, die er durchschneidet. Soviel Zeit muss sein, Herr Oberstudienrat.
Es sieht genauso aus, wie vor einigen Jahren, ich erkenne die Örtlichkeit wieder, hatte ich doch damals zu einem flüchtigen Besuch hier aufgeschlagen und das historische Bauwerk bereits in Augenschein genommen: schnurgerade, steile Wände. Da muss ein alter Mann mit Spaten lange für graben, hatte ich schon damals gedacht. Ansonsten fahren da den ganzen Tag Schiffe durch, aber kein sehr grossen. Früher zur Bauzeit (1881 – 1892) waren die Schiffe halt etwas kompakter. Beeindruckt hat mich bei meinem damaligen Aufenthalt auch noch eine Strassenbrücke über die Einfahrt, die bei Schiffsverkehr nicht hochgeklappt, sondern versenkt wird. Keine Ahnung, was da der Vorteil ist. Es ist mir ein Mysterium geblieben.
Und bevor ich anfange, darüber lange zu sinnieren, lässt Hansi die Maschine aufheulen. Er will offenbar Zeit gut machen. Wir fädeln rasant wieder auf der Autobahn ein. Es geht flott voran. Nach meinem Routenplaner sind wir auf dem letzten Abschnitt der Reise. Nach etwa 40 Kilometern allerdings bremst Hansi wieder ab und fährt rechts ran. Ein Fahrgast verlässt mit ihm den Bus. Nach ein paar Minuten taucht Hansi wieder alleine auf und es geht zackig weiter. Dieser Vorgang wiederholt sich alsbald nochmals. Das weckt zunächst meine Skepsis, dann mein ganz spezielles Interesse, erspähe ich doch auf einem der Autobahnschilder den Namen unseres Zielortes Elefsina (in der Antike als Eleusis bekannt) in absehbarer Entfernung annonciert. Nach kurzer Rücksprache mit Nana, erklärt sich diese bereit, den Lippenstift aufzufrischen, nach vorne zu gehen und mit dem Don Juan der Fernstrassen über einen ausserordentlichen Zwischenstopp an der uns genehmen Ausfahrt Elefsina zu verhandeln. Wie ich an den Armbewegungen ablese, wird die Verhandlung kurz und energisch geführt. Nana kehrt zu schnell zurück. Ihr Gesicht verrät Enttäuschung (wenn man mal von den flatternden Nasenflügeln absieht). Der Sachverhalt ist relativ simpel erklärt: es ginge prinzipiell schon, aber nicht bei uns, da das Gepäck auf der linken Seite des Busses verstaut ist. Wenn Gepäck rechts, dann rechts ran, alle Mann rechts raus und recht viel Spass in Elefsina. Links sei zu gefährlich. Was sich hier anhört wie ein satirischer Kommentar zur politischen Grosswetterlage in Sachsen – Anhalt, bedeutet für uns ganz banal: Pech gehabt. So einfach ist das manchmal, im Gegensatz zur Grosswetterlage. Aber gut, woher soll man es wissen.
Es dauert nicht lange und wir passieren die Ausfahrt Elefsina in flottem Tempo. Allerdings stellt sich bei mir die Frage, ob ich denn wirklich hier aussteigen gewollt hätte. Das Szenario, das an uns vorbeifliegt, gibt doch mehr Anlass, das Gaspedal bis zum Bodenblech durchzudrücken, um diesem erbarmungslosen Gegenentwurf feinsinniger antiker Mystik zu entkommen, der sich in ungeheurer Brachialität über die geweihte Landschaft ergiesst. Oh Zeus, oh Apoll, von Demeter möchte ich gar nicht erst anfangen, wohin habt ihr mich geführt, bin ich gar Odysseus, der Umherirrende, oder wie, oder was …
Doch die Götter schweigen. Nur der Chor der Industrieästheten setzt zum Jubel an. Ich kann die Bauten natürlich nicht zweifelsfrei zuordnen, doch meine ich ein Übergewicht aus dem Bereich der petrochemischen Industrie zu erkennen, vielleicht ist es aber nur ein Weltraumbahnhof oder der Eingang zum Hades.
Nach nicht endend wollender Fahrt entlang der stählernen Mahnmale des allgegenwärtigen  Industriekultes erreichen wir die Stadtgrenze von Bochum, pardon, ich meine natürlich Gelsenkir – …, oh Mann, Mist, AAAAATHEN natürlich, die grossartige Hauptstadt der Helenen, die uns mit einen bunten Strom an quirligen Kraftfahrzeugen zu begrüssen scheint, der uns als Feierabendverkehr freudig entgegen perlt. So schwimmen wir eine Weile mit ihnen über die zahllosen Spuren der Aus – und Einfallstrassen, durch dieses chaotisch anmutendes Lichtermeer, das die Ablösung des verbrauchten Tages illuminiert, ob der will, oder nicht. Wir jedenfalls, wir wollen jetzt auch nicht mehr, wir wollen raus aus der Dose.
Der Bus biegt abrupt nach rechts in einen riesigen dunkelgrauen Kasten ab, eine Kreation aus Stahlbeton und Wellblech, dem Busterminal. Während ein schnödes Verkehrsmittel da rein darf, musste offenbar jedweder architektonische Schöngeist draussen bleiben. Eine griechische Spezialität, wie mir heute schon des öfteren aufgefallen ist. Der Fahrer steuert auf eine Parkbucht zu, die offenbar für unsere Linie vorgesehen ist, die aber von einem Kleintransporter blockiert wird, der da frech und mittig abgestellt ist. Einen Moment denke ich, Hansi, du wirst doch wohl nicht … – doch, er wird! Wie der monströse Schlussakkord einer lange vor sich hinplätschernden Sinfonie in Pianissimo, das Grande Finale Furioso: Hansi betätigt das Horn!
Outdoor ist sowas schon nicht schlecht, aber Indoor, meine Güte! Ich glaube, das Dach hebt sich kurzzeitig um einige Zentimeter, während Rostbrösel und tote Fledermäuse zur Erde regnen. Ich weiss zwar nicht, welche Götter der griechischen Mythologie da zuständig sind, aber sie werden ob dieser Huldigung hoch zufrieden sein. Hansi sammelt zweifellos spirituelle Pluspunkte. Oder er hat einen Werbevertrag mit dem lokalen Hörgerätehandel. Es dauert noch ein paar Minuten, dann schlurft eine etwas ungepflegte Erscheinung aus der Cafeteria zu der falschparkenden Rostlaube, nicht ohne unseren Chauffeur mit einigen Flüchen einzudecken, welche dieser gerne und inbrünstig zurück gibt. Dann tuckert der Transporter stinkend davon und Hansi beendet offiziell seine Performance mit dem Einparken und Ausladen des Gepäcks. Ob und mit wem er dann den Feierabend einläutet, ist offiziell nicht überliefert, vermutlich fährt er einfach nach Hause zu seiner Frau und den drei Kindern. Ehrlich gesagt, mir ist das sowas von egal, ich würde jetzt erstmal gerne den Endspurt anziehen, um dann final mit Nana in irgendeiner Taverne den Tag ausklingen zu lassen.
Der Abend hat bereits Einzug gehalten. Wir waren über sieben Stunden (ohne Fähre gerechnet) unterwegs. Vor der Halle ist ziemlich Betrieb. Viele Reisende werden abgeholt, andere nehmen sich Taxis oder warten auf Stadtbusse. Wir haben eine Adresse auf einem Zettel und eine Info, was es mit dem Taxi ungefähr kosten darf nach Elefsina. Das funktioniert dann auch unerwartet reibungslos. Der erste Fahrer den wir anhauen, macht den Deal für 30 €. Glücklicherweise müssen wir nicht durch ganz Athen, sondern fahren da, wo wir gerade hergekommen sind, wieder raus auf die Schnellstrasse und sind in einer guten halben Stunde in Elefsina.
Wir verlassen die Autobahn. Es ist schwer eine sachliche Einschätzung abzugeben, wenn man bei Dunkelheit einen bislang völlig  unbekannten Ort erreicht, aber das, was man an Umgebung erkennen kann, würde ich mit dem schönen deutschen Begriff Gewerbegebiet charakterisieren wollen, oder sagen wir mal Industrie – Gewerbe – Mischgebiet. Mir fallen dazu noch Worte wie Autobahnkreuz, Umspannwerk und Containerbahnhof ein, aber keinesfalls Formulierungen die auf Urlaub, Ferien, Erholung oder Kultur hinweisen. Zumal die Eindrücke der spätnachmittäglichen Passage auf der Autobahn nichts Gutes erahnen lassen.
Es ist auf jeden Fall ausserhalb von was auch immer, ein Randgebiet an einer Ausfallstrasse, die Bebauung wird jedenfalls dünner. Wir halten vor einem Krankenhaus, gegenüber zwei, drei Cafeterien im Feierabendmodus, dazwischen geht eine Seitenstrasse ab. Ein Mann in T – Shirt, so um die Dreissig, winkt. Das muss der Vermieter unseres Appartements sein, wir hatten kurz vorher angerufen. So ist es dann auch. Es geht zu Fuss noch 200 Meter bei spärlicher Beleuchtung ins Nirgendwo, dann stehen wir vor einem eingeschossigen Häuschen mit Ziegeldach und weinbewachsener Pergola davor. Der Vermieter verständigt sich wieder in bewährtem Funny – English. Die Wohnung ist geräumig, 2 Zimmer, Küche, Bad, wobei das Wohnzimmer direkt in die Küche übergeht, getrennt durch einen Tresen. Die Einrichtung besteht nur aus dem Nötigsten. Damit können wir gut leben, besser als hätte sich hier jemand an geschmackloser Innenausstattung versucht. Wir fragen noch nach einer Verbindung in den Ort. Er meint, es fahren Busse oder Taxis. Bei der Frage nach den Bustarifen schaut er uns verständnislos an und antwortet trocken: „Nobody pay for bus“. Ein durchaus kundenfreundliches ÖPNV – Konzept, wie ich finde, gelebte Basisdemokratie an der Wiege der Demokratie. Beispielhaft!
Wir entscheiden uns dennoch heute abend für die Kraftdroschke. Nach eher ermüdender Busreise gilt es, keine Zeit zu verlieren und endlich die lokale Gastronomie einer ersten Probe zu unterziehen. Die Fahrt ins Zentrum von Elefsina dauert keine zehn Minuten und kostet sechs Euro. Ich ahne, das wird unser favorisiertes Fortbewegungsmittel bleiben.
Laut Recherche im Smartphone lassen wir uns an die zentralste aller zentralen Kreuzungen bringen.  Davon gibt es wirklich nicht viele. Ein paar Schritte weiter durch eine Nebenstrasse erreichen wir einen kleinen quadratischen Platz, der überwiegend im Bau befindlich scheint. Da wurde die städtische Planung offenbar vom Speed der europäischen Kulturhauptstadt überholt. Sieht bestimmt mal ganz nett aus, wenn alles fertig ist. Von dem Platz geht eine Art Fussgängerzone am massiven  Gitterzaun des Mysteriums entlang. Hier befinden sich auch jede Menge Lokale. Die meisten haben allerdings zu. Das ist nachvollziehbar angesichts des überschaubaren Publikums, dass hier noch flaniert. Es klingt vielleicht etwas vorschnell geurteilt, aber wenn hier einer nicht zu steppen scheint, dann ist es der Bär. Wir entscheiden uns schnell für eine Gaststätte, die den Anschein macht, noch länger geöffnet zu haben und wo tatsächlich noch einige Gäste auf der Terasse verweilen. Der Name „Italiko“ lässt auf eine griechische Adaption italienischer Kochkunst schliessen. Positives Denken für Unerschrockene ist angesagt: lassen wir das kulinarische Abenteuer zu? Ja, aber selbstverständlich. Die feilgebotenen Speisen klingen vertraut in unseren Ohren, allein der Gaumen muss sich gegebenenfalls etwas eintunen, und der Wein – bitte, einer muss es ja rausreissen! Oder zwei.
Es ist ein schöner Abend am Zaun einer der bedeutensten Kultstätten der griechischen Antike. Durch die Gitterstäbe wabert der Hauch der Geschichte über die Spaghetti aglio e olio, und, obwohl keine Peperoncini drin sind, fühle ich mich als Teil von etwas Bedeutendem, auch wenn ich noch nicht sagen kann, von was eigentlich genau. Dafür ist es wahrscheinlich noch zu früh. Morgen werden wir ihn erkunden, diesen mystischen Ort, Kontakt aufnehmen mit der Welt der Götter und der Mythen, teilhaben an der spirituellen Aura die von diesem heiligen Boden ausgeht. Möglicherweise erkläre ich dem Koch auch die zwingende Notwendigkeit der Peperoncini in einigen seiner Gerichte, wir werden sehen.
Beseelt verlassen wir die Welt des Übersinnlichen in einem bodenständigen griechischen Taxi, dessen Innenraum etwas nach Aftershave und Knoblauch riecht. Nana wirkt zufrieden. Wir gehen Arm in Arm die letzten Schritte zu unserer neuen Behausung, begleitet vom fahlen Licht des Mondes und dem sanften Rauschen der nahen Autobahn.
Elefsina, du geheimnisvolle Schönheit, die sich vielleicht nicht jedem sofort erschliesst, wir sind nun da, und wir werden es herausfinden, alles, schonungslos, was auch immer es sein mag. Und wir werden dich fortan wieder Eleusis nennen, nach deinem alten, wirklichen Namen, den die Götter einst für dich ersannen.
Ich lasse den Tag nochmal Revue passieren. Wir liegen schon im Bett. Nana schmiegt sich an meinen Rücken. Es fühlt sich einfach grossartig an. Ich formuliere im Geiste bereits folgenden Wortlaut: „… würdest du mir nochmal so in den Nacken schnauben, wie heute Vormittag, du kleine wilde Stute?“, da vernehme ich ein deutliches, wenn auch hauchzartes Schnarchen aus ihrer Richtung. Vielleicht ist es manchmal besser, nichts gesagt zu haben.
Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 4 – Annäherung an ein Mystetrium

Paris nervt. Also, nicht die französische Hauptstadt, nein, mein Kumpel Paris. Er nervt auch nicht immer. Sonst wäre er wohl kaum mein Kumpel. Aber hat ein paar Sachen drauf, da denkst du, ach, du Scheisse …
Wir liegen zusammen auf dem riesigen Balkon eines fetten Anwesens im Vordertaunus. Die Gartenliegen sind gepolstert und rechtwinklig vor einem Couchtisch angeordnet, der über und über mit allerlei Delikatessen gedeckt ist. Paris schnickt irgendwie eine Weintraube mit dem Unterarm in die Luft und schnappt sie mit dem Mund auf. Das sieht ungeheuer lässig aus. Ich habe es versucht – vergiss es! Das ist noch eine von den harmloseren Sachen, mit denen er rumnerven kann. Aber ich will mich nicht beschweren. Er hat mich eingeladen und sich wieder mal nicht lumpen lassen. Das sieht verdammt gut aus hier. Vor allem der Wein.
Er verdient wohl ziemlich gut. Ich glaube mit Autohandel, oder Pferde, oder auch beides, keine Ahnung, er macht da kein grosses Ding draus. Vielleicht waren seine Eltern auch einfach nur gestopft. Wir haben irgendwo anders unsere gemeinsame Ebene gefunden. Fussball, Wein und schöne Frauen. Vielleicht ist es das. Keine Ahnung.
Ich will gerade den Faden unserer letzten Diskussion wieder aufnehmen, es ging da um die, in unseren Augen, unglückliche Besetzung der linken offensiven Aussenposition bei Eintracht Frankfurt, da vernehmen wir aus Richtung der weiss bekiesten Hofeinfahrt ein dezentes Gelärm, oder besser gesagt weibliches Gezwitscher. Paris springt reflexartig auf. Er sieht verdammt gut aus, wenn sich sein eng tailliertes Hemd über der muskulösen Brust spannt. Das weiss er auch. Und er lässt nichts anbrennen. Meistens.
„Ich schau mal kurz nach, was da unten so am laufen ist. Könnte sein, dass unsere Party jetzt gleich Fahrt aufnimmt“, raunt er und entschwindet wie ein Götterbote. Ich seufze verständnisvoll. Mir ist zwar nicht direkt nach Party an diesem sonnigen Frühsommernachmittag, aber ich weiss auch, dass da nichts zu machen sein wird, wenn er erstmal Witterung aufgenommen hat.
Nach kurzer Zeit erscheint er wieder auf dem Balkon. Zu meiner Überraschung allein.
„Was ist los, sind´se wieder weg? Wer war das denn überhaupt?“, frage ich, jetzt doch etwas interessierter.
„Nein, die sind noch da, zwei Töchter mit der Stiefmutter. Die ganze Family vom Chef hier, dem Oberguru, dem Dorfältesten. Da muss aber erstmal was geregelt werden, verstehst du.“ –
„Nö, versteh ich nicht.“ –
„Na ja, Alter, wir sind zwei, die sind drei, da ist schonmal eine zuviel, also, konventionell paarungstechnisch gesehen, aber die scheinen mir im Moment etwas neben der Spur.“ –
„Wo ist das Problem? Frauen sind doch immer irgendwo… – was weiss ich, anstrengend. Das hat dich doch nie abgehalten.“ –
„Ja schon, aber die wollen jetzt erstmal wissen, wer die Schönste im Land ist. Ich meine, ich weiss das eh, mussde nur mal genau hinschauen, aber dann sind erstmal zwei beleidigt, wenn ich damit rausrücke. Ich will´s mir ja nicht gleich mit allen verderben, schon gar nicht mit dem Oberboss.“ –
„Logisch, das wäre auch wenig gentlemanlike. Apropos, wie heisst denn die Schönste?“ –
„Aphrodite.“ –
„Ah, hab ich mir gedacht. Und die zweitschönste?“ –
„Helena.“ –
„Okay, die olle Stiefmutter muss weg.“ –
„Hera?“ –
Ein tiefes Horn ertönt unten im Tal. Paris zuckt zusammen.
„Scheisse, der Alte ist zurück“ ,entfährt es ihm hastig.
Ich blinzle. Das Horn ertönt erneut. Es klingt nach einem Dreissigtonner. Dann gackert ein Huhn. Ich reisse die Augen auf.
Im Zimmer ist es ruhig. Die Sonne drückt ihre Strahlen durch ein paar Ritzen der Fensterläden. Wieder gackert es. Das muss ganz in der Nähe sein. Die Geräusche sonst scheinen von weiter weg zu kommen, diffuses gewerke moderner Zivilisation. Ich richte mich im Bett auf und reibe mir die Augen. Der Platz neben mir ist leer. Ich denke an Aphrodite, wie sie im Traum ausgesehen hat, oder vielmehr, ob sie vielleicht Nana ähnlich gesehen hat. Ach herrjeh, was ist das denn für ein wirres Zeug, ich brauche dringend Kaffee.  
Ich tapse noch etwas benommen durch die Wohnung. Vorn in der Küche steht die Tür nach draussen auf. Nana sitz davor auf einem Gartenstuhl und schlürft ihren Kaffee. Ihre schönen Beine hat sie lässig ausgestreckt auf einem weiteren Stuhl platziert. Sie lächelt aufmunternd, als sie mich entdeckt. Ich beuge mich zu ihr hinunter, küsse ihren Nacken, rieche an ihrem Haar, murmle ein unkenntliches „Guten Morgen“ in mich hinein.
Wir befinden uns seitlich des Hauses in der Einfahrt zum Garten. Auch die ist mit einer grün bewachsenen Pergola überdacht. Bienen summen. Unbeeindruckt von unserer Anwesenheit scharren zwei Hühner im Staub herum. Ein Idyll, nur minimal unterbrochen vom Horn des Zeus, das der nahe Autobahnzubringer gelegentlich zu uns herüberweht. Mal ganz abgesehen von der Frage, ob dieser Zeus überhaupt ein Horn hatte, oder war das doch eventuell dieser Odin, oder Wotan, vielleicht auch die Christel von der Post, Herrgott, ich bin in der Göttefrage nicht ganz so sattelfest …
Ich schenke mir einen Schluck Kaffee ein, obwohl ich viel lieber einen Espresso hätte. Aber dazu müsste ich einigen Aufwand (Zähneputzen, Waschen, Anziehen, Losmarschieren) betreiben. Dann halt später. Nana hat ein Buch neben sich liegen, liest jedoch gerade nicht. Das sehe ich quasi als Aufforderung, von meinem Traum zu berichten, der irgendwie penetrant mein Gehirn verkleistert hat. Ich greife mir einen Stuhl und setze mich neben sie.
„Ich hatte heute Nacht einen Traum“, beginne ich mit bedeutungsvollem Timbre in der Stimme,
„der wohl kaum der Erwähnung wert wäre, gäbe es nicht die Beziehung zu diesem mystischen Ort, wären wir nicht auf dieser heiligen Mission zwischen den Welten, dem Hier und Jetzt, dem Greifbaren, und dem Olymp der Götter, dem Unnahbaren, der Mystik des Unsterblichen …“
Ich bin mir ziemlich sicher, sie hat eben mit den Augen gerollt. Jetzt schaut sie mich wieder zuvorkommend und zuckersüss an, und fragt mit diesem deutlich ironiegetränktem Unterton:
„Nun denn, Geliebter, wäre es denn im Bereich des Möglichen, eine etwas weniger ausufernde Zusammenfassung der Geschehnisse zu liefern? Ich würde gerne heute noch aus dem Haus gehen.“
Als Künstler habe ich es gelernt, Seite an Seite mit dem allgegenwärtigen Banausentum zu existieren, ohne das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Ich ignoriere die kleine Spitze und fahre fort:
„Es ist doch ausserordentlich bemerkenswert, dass mir ausgerechnet hier ein Traum widerfährt, der einen so speziellen Bezug zur Mystik dieses Ortes herstellt.“
„Mhh“ –
„Ich meine, ich träume sonst nie von griechischer Mythologie oder irgendwelchem Göttergedöns. Kann mich jedenfalls nicht erinnern.“ –
„Mh – mh, ja und, was war denn jetzt der Kern der Götterspeise?“ –
Sie kichert etwas. (Ho ho, was für ein Brüller!)
„Also, ich muss seh´n, dass ich das noch irgendwie hinkriege. Da waren drei Frauen, Hera, Aphrodite und Helena. Hera war die Stiefmutter von den anderen zwei und die Frau von Zeus, und gleichzeitig seine Schwester, glaub´ich.“ –
„Uiuiui, prominenter Besuch in deinem Kopf! Und auch noch Inzest mit dabei.“ –
Ich höre den feinen Spott, ja, ich höre ihn …
„Jedenfalls, die drei kamen vorbei bei Paris, wo ich gleichzeitig zu Besuch war.“ –
„Aha.“ –
„Ja, und da gab es ein Problem …“ –
„Jetzt wird´s interessant …“ –
„Das Problem erscheint, aus männlicher Sicht betrachtet, eher geringfügig, aber bei Götterfrauen sieht man das offenbar anders. Die Kollegin Eris, Göttin der Zwietracht, hatte behauptet, nur eine von den Dreien wäre superhübsch, die andern beiden eher semi. So ungefähr war das. Dann wollten die natürlich wissen, wer denn das Topmodel wäre, obwohl sie alle supergut ausgesehen haben, soweit ich mich erinnere.“ –
„Das möcht´ ich jetzt aber auch genau wissen“, meldet sich Nana vehement zu Wort, „wie muss ich mir die drei vostellen, so wie Helene Fischer, oder Heidi Klum, oder mehr so Frauen aus deinem Bekanntenkreis?“
„Ähh – ja – nee, mehr so wie, wie früher, mein´ ich …“
„Deine Mutter?“ –
„Ach Quatsch, eher so die junge Liz Taylor und Brigitte Bardot, oder Lauren Bacall, eher so Retro – Style, wenn du weisst, was ich meine.“ –
„Nscho – Tschi auch?“ –
„Hä?“ –
„Marie Versini, der feuchte Traum verklemmter Schulbuben.“ –
„Ja, okay, von mir aus auch Nscho – Tschi. Ist mir egal. Jedenfalls die Frauen haben den Chefgott Zeus gefragt, wer denn die Schönste in und um den Olymp sei. Der weise Mann hat natürlich abgewunken und gemeint, nee nee nee, nicht mit mir, das gibt nur wieder Zickenalarm im Haus, fragt mal den Paris, der kennt sich aus.“ –
„Also, der Paris war der Frauenexperte? Und du warst da zufällig anwesend?“ –
„Ja, keine Ahnung, so ungefähr halt, es war doch bloss ein Traum …“
Man kann ihr die wachsende Erheiterung deutlich anmerken.
„Und, was haben die zwei Frauenexperten dann für ein Urteil gefällt?“ –
„Dann war irgendwie der Traum zu Ende.“ –
„Aah, Koitus – Interruptus. Das haben Träume ja ganz gut drauf“, grinst sie mich breiter als breit an.
Ich habe langsam das Gefühl, ich kann die Message nicht so richtig rüberbringen. Vielleicht gibt es ja auch gar keine. Traum ist Traum, Mysterium ist Mysterium, ich bin der Depp und Nana hat ihren Spass gehabt. Das ist auch viel wert für die Stimmung im Team.
„Aphrodite soll die Schönste gewesen sein“, schicke ich noch hinterher, „mit der ist Paris dann nach Troja abgehauen, soviel ich weiss. Die anderen waren so sauer, dass es Krieg gegeben hat. So kann´s gehen bei Götters daheim. Ich muss allerdings zugeben, dass das nur ein sehr rudimentärer Auszug aus der ganzen Geschichte ist.“ –
Nana überlegt. „Ich habe irgendwo gelesen, in diesem Mysterium hier wurde vor allem der Göttin Demeter gehuldigt.“
„Die vom Reformhaus?“ –
„Genau. Also lass uns mal die Einhörner satteln und den ganzen Spuk in Augenschein nehmen, mein griechischer Halbgott, es ist bald Mittag“, versucht sie ein versöhnliches Schlusswort zu finden.
„Wieso nur Halbgott?“ –
„Okay, du Vollgott.“ –
Wir werfen uns für die Expedition angemessen in Schale. Der Weg zur Ausfallstrasse ist staubig, die Sonne brutzelt auf Stufe frühlingsmild, das Forschungsteam ist erwartungsfroh und wissbegierig. Vor dem Krankenhaus lauern mehrere Taxis. Wir lassen eins zuschnappen, wir wollen keine Zeit verlieren. Wie gestern geben wir als Ziel das Zentrum an, und landen in etwa an selbiger Stelle. Sechs Euro. Überschaubare Dimensionen. Der Eingang zum Mysterium ist nur einen Steinwurf entfernt. Ich halte inne, hole tief Luft, der Bedeutung des Momentes angemessen. Nana zeigt mir den Vogel und bezahlt den Eintritt.
Da stehen wir nun. Im Gegensatz zum Mysterium, da steht nämlich nichts mehr. Also, kein Stein auf dem anderen. Auf einer Schautafel ist der ganze Grundriss aufgezeichnet. Das Gelände hat bestimmt mehr als ein Hektar. Man sieht, da muss wohl einiges an Bauwerken drauf gestanden haben, Tempel, Badehäuser, Gästezimmer, etc.. Anhand der Steinmenge, die noch rumliegt, lässt sich das ganze Ausmass erahnen. Schade, denke ich, wer auch immer das hier platt gemacht hat, er muss verdammt viel Wut im Bauch gehabt haben.
Jede Menge Säulen wurden irgendwo am Rand zusammengetragen. Da wurde wohl mal in der Neuzeit der Versuch gestartet, etwas aufzuräumen. Vielleicht lagen die zu sehr auf den Wegen rum, die man überall auf dem Gelände angelegt hat, damit die ganzen Oberstudienräte in Sandalen und khakifarbenen Stoffhüten alles barrierefrei in Augenschein nehmen können. Wir trampeln uns langsam über die Pfade von A nach B, von C nach D, lesen dies und jenes auf verschieden Tafeln, werden beobachtet von jungen Menschen in roten T- Shirts, die hie und da postiert sind, offenbar um aufzupassen. Auf was eigentlich? Dass jemand Steine klaut? Oder rothäutige, betrunkene Engländer auf die Wege kotzen? Die finden erst gar nicht hierher. Eigentlich findet niemand hierher, ausser Nana und mir. Die Mystik bröckelt. Nein, nicht bei mir! Ich wehre mich! Das ist, verdammt nochmal, das allererste Mysterium in meinem Leben, mal abgesehen von einigen merkwürdigen Frauenbekanntschaften. Ich beschliesse, irgendwo ein Stückchen Stein abzupickeln und mitzunehmen, sozusagen als eine Art magische Reliquie, als mystisches Statement eines untergegangen Geisterkultes, vielleicht der Beginn einer neuen Weltreligion, die ich entwerfe und deren Gott ich selbst bin … – äääh, ja.
Nana fragt, ob ich was hätte, weil ich so belämmert gucken würde. Ich verneine. Ausserdem meint sie, da gäbe es noch ein Museum, da sollten wir vielleicht hin. Genau das machen wir.
Das Museum ist klein, aber fein. Ein Haus älteren Stils, am Hang einer leichten Anhöhe am Rande des Mysteriums gelegen. Der Inhalt ist eigentlich erwartungsgemäss, mehr oder weniger gut erhaltene, antike Skulpturen in allen Grössen, dazu Werkzeuge, Waffen und allerlei kultischer Hausrat. Handwerklich sind diese menschlichen Abbilder einwandfrei, auch wenn ab und zu ein Arm oder Kopf  fehlt, oder zwei, das muss man einfach neidlos anerkennen. Aber ich habe auch das Gefühl, alles schon mal gesehen zu haben. Tja, eben klassisch, traditionell, langweilig, wie für Postkarten aufgestellt.
Ich bekomme Hunger. Es bedarf keiner grossen Überredungskunst, Nana geht es ähnlich. Sie nickt sofort meinen Antrag auf Ortswechsel ab. Wir schlendern lässig über die Anlage gen Ausgang. Dabei beobachte ich einerseits die Umgebung bezüglich meines angepeilten steinigen Souvenirs, andererseits behalte ich natürlich die Wächter im Auge. Nana fotografiert. Das macht uns unauffällig. Aber es ist wie verhext, von keinem der Quader lässt sich etwas abpopeln. Ich verschiebe die Aktion zunächst.
Vor dem Haupteingang verläuft eine ruhige Nebenstrasse mit kleineren Privatanwesen am Zaun des Mysteriums entlang. Wir entdecken ein kleines Bistro schräg gegenüber des Eingangs. Eine Art Pavillion mit Garten, ein paar Tische verteilt auf kiesbedecktem Boden unter niedrigen Bäumen, gesäumt von einer mannshohen Hecke. Einladend. Es gibt kleinere Gerichte, mit denen auch Vegetarier ganz gut klar kommen. Hier werden wir unser heutiges Basislager einrichten, schlage ich vor, und die weitere Vorgehensweise erörtern. Nana meint, es gäbe laut Recherche im Internet verschiedene Kulturangebote, wenn auch zur Zeit keine Konzerte oder andere Live – Aufführungen, so doch zumindest die ein oder andere Ausstellung. Ich bemerke, der Kulturhauptstadt – Zaster dafür sei vermutlich schon weitgehend rausgeballert worden. Aber, es sei doch hier laut Landkarte immerhin ein Ort am Meer, und das wiederum liesse auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von strandartigen Gebilden inklusive Promenade schliessen. Ich muss allerdings gestehen, nach meinen bisherigen Eindrücken von Eleusis war ich mir da nicht so sicher. Wir beschliessen nach ausgiebiger Stärkung, den Weg zum Wasser und zur Kultur einzuschlagen. Die Hauptfussgängerzone, an welcher wir unser gestriges Abendmahl zu uns genommen hatten, würde uns zu den gewünschten neuen Erkenntnissen führen. Unter Umständen liesse sich der Weg dorthin mit etwas Wein beflügeln, dem Getränk der Götter, wie ich noch anmerke, da wäre ich mir z.B. ganz sicher. Nana lehnt mit Verweis auf die Tageszeit ab.
Rechter Hand das Mysterium, linker Hand eine lange Reihe gastronomischer Betriebe, meist geschlossen, stapfen wir ein paar hundert Meter bis zu einem parkähnlichen Platz mit hohen Bäumen. Dahinter öffnet sich das Meer. Öffnen ist vielleicht unglücklich formuliert, man sollte besser sagen, da ist dann Wasser. Eine gemauerte Kante weist jedenfalls darauf hin, dass der Ort hier zu Ende ist. Die Sicht in die Ferne lässt sich auch nicht so recht auftun, da liegt die Insel Salamina im Weg. Vereinzelte Palmen erinnern an etwas, was hier nie stattfindet. Links streift der Blick die Mole eines kleinen Hafens, ein paar Boote, keine Yachten, schmuckloses Ambiente, der Gegenentwurf des mediteranen Postkartenidylls. Rechter Hand der Strand? Doch, scheinbar ein Strand. Ein Strändchen, vielleicht 100 Meter lang, bestenfalls. Halb eingegraben im Sand ein grosser Reifen, von einem Traktor vielleicht, raffinierte Symbolik eines umspülten Orakels, quo vadis Kulturmetropole Europas auf Zeit? Oder einfach nur Sondermüll? Ansonsten ist niemand da. Das Meer plätschert wie geistesabwesend vor sich hin. Es ist auch nur rein zufällig da.
Wir begeben uns nach rechts, laufen eine Strasse am Wasser entlang. An einer langen Mole, die ins Meer hinaus führt, ist ein kleines ausgebranntes Ausflugsschiff fest gemacht. Donnerwetter, die geben aber Gas. Mir kommt es vor, als befinde man sich im Wettstreit mit Igoumenitsa um den Titel der deprimierendsten Gemeinde Griechenlands. Ausgang offen.
Ein paar Meter und fünf abgestorbene Palmen weiter, betreten wir offenbar einen der kulturellen Hot – Spots. Es ist das aufgemotzte Gelände einer alten Olivenölfabrik. Wenn man den weitläufigen Hof betritt, trifft man zuerst auf einen Kiosk mit ein paar Tischen und Stühlen davor. Dahinter steht das vermutlich ehemalige Verwaltungsgbäude in Form eines zweigeschossigen Villa, hinter der widerum ein improvisiertes Amphitheater aus einer Stahlrohrkonstruktion aufgebaut ist. Auf der anderen Seite des Hofes liegen zwei grosse Ausstellungshallen nebeneinander. Davor steht ein grösseres Kunstwerk, ein skuriles Gefährt, das aus irgendeinem einem Hollywood – Fantasy – Epos entliehen scheint. Oder woher auch immer. Jedenfalls, das ganze Areal kommt frisch renoviert und mit neuem Glanz daher. Man sieht, hier sind Gelder geflossen.
Der Kiosk ist besetzt, die Hallen geöffnet, der Eintritt frei, wir werden dieses kulturelle Angebot auf jeden Fall wahrnehmen. Ausser uns verlieren sich noch eine handvoll anderer Gestalten auf dem Gelände. Wo die auf einmal alle herkommen?
Die eine Halle ist der berühmten griechischen Filmschauspielerin und Kulturministerin Melina Mercury gewidmet, mit allerlei Exponaten aus ihrer umfangreichen Lebens – Performance, hauptsächlich in Form von Fotos mit entsprechenden Begleittexten. Schönes Ding, aber das zieht sich.
Die zweite Halle macht mich dann doch einigermassen sprachlos, aber hallo. Sie ist mit einer ziemlich fetten Video / Klang – Installation ausgestattet, die der deutsche Künstler Heiner Goebbels da reingedengelt hat. Um meine Überraschung zu erläutern, muss ich kurz weiter ausholen. In jungen Jahren, wir sprechen hier von Mitte der Siebziger, weilte Heiner, so wie ich auch, in Frankfurt am Main. Obwohl wir keinen näheren Kontakt miteinander pflegten, fühlten wir uns beide politisch der damaligen Sponti – Szene zugehörig. Man sah sich gelegentlich auf den entsprechenden Ringelpietz – Veranstaltungen, wo auch Heiner gern das ein oder andere musikalische Schmankerl zum Besten gab. Da er sich eher der künstlerischen Avantgarde verpflichtet sah, galten seine Darbietungen bisweilen als schwer verdaulich. Aber Respekt, er hat es durchgezogen. Mittlerweile ist er Professor und ein international anerkannter Künstler.
Nun ja, wie auch immer, so trifft man sich wieder, denke ich, während sich ein archaischer Klangteppich mit surreal anmutenden Videosequenzen über mich ergiesst. Geplättet verlasse ich die düstere Halle. War das mein Erweckungsszenario, die verborgene Pforte zur Spiritualität dieses wundersam zwiespältigen Eleusis?
Der Wärter der Halle raucht eine Zigarette vor der Tür. Nicht die erste. Der Aschenbecher ist voll. Immerhin, er hat Arbeit.
Ich treffe Nana wieder, wir haben uns kurz aus den Augen verloren, als wir unseren unterschiedlichen Motiven nachgejagt sind. Das ist normal. Jetzt gehen wir zusammen einen Kaffee trinken und tauschen uns aus über das Erlebte, unsere unterschiedlichen Blickwinkel. Nana zeigt ihre Fotos, ich berichte von meinen Zweifeln, einer gewissen Enttäuschung, die sich nicht verhehlen lässt. Ich bin mysterientechnisch überhaupt nicht so ergriffen, wie ich das erwartet hatte. Sollte der alte Zauber diese Ortes etwa verflogen sein, entweiht von rastloser Neuzeit, die nur noch den gefrässigen Götzen geistloser Gier huldigt. Was habe ich eventeuell übersehen? Welche Signale habe ich nicht empfangen. Bin ich zu schlecht vorbereitet? Habe ich das Ganze in meiner nonchalanten Art etwa zu oberflächlich angegangen?
Ja, ich bin schlecht vorbereitet. Ich bin eigentlich immer schlecht vorbereitet. Nicht erst seit der Schulzeit, wahrscheinlich schon im Mutterleib. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben. Damit muss jetzt Schluss sein! In mir reift der Entschluss, es noch einmal anzugehen, diesmal besser gerüstet, wacher, aufmerksamer …

Es ist Abend, Nana sitzt im Bett und liesst in einem Buch. Als ich mich zu ihr lege, unterbricht sie die Lektüre.
„Ich fahre morgen nach Athen, ich muss den Kamera – Akku irgendwie geladen kriegen, oder ein Ladegerät kaufen“, gibt sie sogleich bekannt. Ich nicke verständnisvoll.
„Und du? Kommst du mit?“ –
Ich schüttele den Kopf.
„Sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich brauche mal etwas Zeit für mich. Ich muss den spirituellen Zugang zu diesem Ort finden.“ –
Sie schaut etwas skeptisch drein.
Ich reisse nochmals die vorherigen Überlegungen zu meinem ganz persönlichen Mysterium – Dilemma an, verschweige allerdings, dass ich, ausser den tugendhaft – wissenschaftlichen Interessen, auch ganz gern mal einfach rumgammeln möchte, Beine hochlegen, den Zeus einen guten Mann sein lassen. Ich ahne, der Besuch im Moloch Athen würde letztendlich bedeuten, den ganzen Tag von Fotomotiv zu Fotomotiv zu rennen, um sich abends dann mit dicken Füssen drei – vier Rotwein und ein Bifteki in die Birne zu kloppen und erschöpft ins Bett zu sinken.
Nana guckt noch einen Tick skeptischer.
„Aber du hast nichts dagegen, wenn ich allein nach Athen fahre?“ –
„Nein, nein, um Gottes Willen, kein Thema, ich komm´ nächstes mal mit, läuft ja nicht weg die Akropolis.“ –
Sie mustert mich eine Weile mit verkniffenen Augen, dann sagt sie nur: „okay“.
Manchmal, ja, manchmal kann sie auch verdammt unkompliziert sein, meine kleine Aphrodite.

Diesmal kräht kein Hahn, es säuselt nur ein Smartphone seine uninspirierte Weckmelodie. Ich werde mich nie an sowas gewöhnen. Wir springen aus den Federn und richten uns her. Nana sieht nach kurzem Eingriff wieder mal blendend aus, ich eher wie hingerichtet. Ein sich wiederholender Vorgang, einem Naturgesetz gleichend, den ich zu akzeptieren gelernt habe. Sie packt routiniert ihre Ausrüstung und in null komma nix sitzen wir in einer der Cafeterias an der Ausfallstrasse zwischen Pappbecher – Cappuccinos, griechischen Lieferfahrern und asiatischen Putzkräften. Da die Abfahrtszeit näher rückt, halten wir uns nicht lange auf. Der Bahnhof ist gleich um die Ecke. Aus dunstiger Ferne gleitet der Vorortszug heran, eine feste Umarmung, ein Kuss, ein letzter Wink, das Zischen der schliessenden Türen, als unbarmherziger Abschiedsgruss des mechanisierten Alltags. Mich erfasst ein kurzer Moment der Wehmut, meine Geliebte so ziehen zu lassen, aber der sentimentale Anflug ist schnell vorbei. Ich habe einen Auftrag. Eleusis sprich!
Also, erstmal spricht niemand, ausser ich mit der Dame hinter dem Tresen der Cafeteria, der ich zu erklären versuche (funny english), dass der Cappuccino mit weniger Milch deutlich an Format gewinnen könnte. Sie liefert prompt ein sehr überzeugendes Ergebnis. Spitzenkraft! Ich ziehe mich zufrieden mit meinem Getränk in unser Apartment zurück. Es ist noch früh am Tag. Ich lungere mit einem Buch gemässigter Schundliteratur an verschiedenen Standorten der Unterkunft, im Bett, auf dem Sofa, auf Stühlen in der Hofeinfahrt, am Küchentresen. Dabei konsumiere ich verschiedene weniger hochwertige Nahrungsmittel, Chips, Cracker, Schokolade, Limo. Desweiteren versuche ich per Internet Informationen zu sammeln (bessere Vorbereitung), die meine Mission zu einem befriedigenden Erfolg führen sollen. Ich erfahre, dass Eleusis die bisher kleinste und hässlichste europäische Kulturhauptstadt ist. So bestätigt sich wenigstens mein Eindruck, den ich bei unserer Ankunft schon hatte. Weiterhin wird konstatiert, dass es in der Neuzeit mehr als Schuttabladeplatz für die Athener galt, während es in der Antike mehrere Jahrhunderte lang eine der wichtigsten Kultstätten der griechischen Mythologie darstellte. So kann´s gehen.
Zitat aus dem Netz: „Wir wollen den Athenern eine Idee davon geben, wie grossartig Elefesina ist“, sagte Michail Marmarinos, künstlerischer Leiter von Eleusis 2023. Das ist mutig. Das Postkarten – Griechenland, das man von Ferienbildern kennt, sucht man hier nämlich vergeblich: Es gibt keine malerischen Gassen, keine weiss getünchten Häuschen, keine hübschen Tavernen am Kai. Doch es wird ja wohl einen Grund dafür geben, dass sich der Hafenort für das begehrte EU-Programm qualifizierte, das Mitte der achtziger Jahre von der griechischen Schauspielerin und Kulturministerin Melina Mercouri (!) erfunden wurde. (Zitat Ende).
Böse Zungen behaupten ja, das eigentliche Mysterium sei die Vergabe des Kulturhauptstadt – Titels an Eleusis gewesen. Ach ja, immer diese bösen Zungen. Na, jedenfalls hat man sich dann einiges an symbolhaftem Brimborium einfallen lassen, um das hässliche Entlein aufzuhübschen. Die ganzen Events wurden z.B. als durchnummerierte Mysterien präsentiert. Ich erfahre in diesem Zusammenhang, dass mein alter Bekannter das Mysterium Nr. 44, mit dem Titel „Seven Columns“, beigesteuert hat.
Zitat aus dem Netz: Beim Auftaktwochenende beeindruckte daher vor allem die site-spezifische Installation des Musikers, Regisseurs und Künstlers Heiner Goebbels, Mystery 44, 7 Columns, 2023. Die 5-Kanal-Videoinstallation um ein dunkles Wasserbecken herum ist in der Lagerhalle einer verlassenen Olivenöl-Fabrik, dem Hauptveranstaltungsgelände, untergebracht. Lichteffekte, die Projektionen eines älteren Tanzstücks Goebbels und seltene Tonaufnahmen aus Feldforschungen des Musik-Ethnologen Samuel Baud-Bovy verweben sich zu einem anmutigen und trotz seiner düsteren Grundstimmung leichten Licht-Bild-Klangraum, der nichts bedeuten will, doch bar jeder direkten politischen Bezugnahme mit seiner Nähe zum Demeter-Heiligtum schnell an Gewalt, Hades und den Raub der Proserpina denken lässt. (Zitat Ende)
Holla die Waldfee. Jetzt weiss ich wenigstens, was mich da gestern überrollt hat. Ich überlege kurz, ob die medizinische Betreuung des Wachpersonals von Mystery 44 im Hinblick auf Spätschäden gewährleistet ist. Und wer zur Hölle ist Proserpina?
Der Vormittag rinnt dahin, meine Festplatte beginnt unter dem gnadenlosen Bombardement der Informationen zu qualmen. Aber ich fühle mich vobereitet. So besteige ich das zwangsläufige Taxi und bin zur fortgeschrittenen Mittagszeit am Brennpunkt meiner spirituellen Sehnsucht. Doch zunächst verlangt der Körper ganz legitim nach Stärkung. Ich steuere das bekannte Italiener – Imitat in Sichtweite des Mysteriums an. Um die Betonung nochmals deutlich auf Stärkung zu legen, fällt meine Wahl auf ein ordentliches Kalbskottlet mit gemischtem Salat und einen spritzigen Pinot Grigio. Eine ausgezeichnete Wahl, wie sich herausstellen sollte, die auf jeden Fall mit einem weiteren Glas gewürdigt werden darf. Bis zum Espresso ist meine sensorische Tiefenschärfe bereits optimal auf sämtliche daherkommenden Götterdämmerungen eingepegelt, wo auch immer die rumwabern würden. Zum Abschluss sollte der Ramazotti auf Eis jegliche unbedachte Eile vermeiden helfen.
So gerüstet, betrat ich also ein weiteres mal die mystische Stätte, das innere Gefühl moderat Erhaben bis diffus alternierend.
Doch zunächst führt mich ein Drang auf die moderne Container – Toilettenanlage, die nagelneu und nahezu unbenutzt das Gelände ziert. Ich finde eine Kabine im tadellosen Zustand. Möglicherweise erleichtert das Absetzen ein wenig Ballasts gleichzeitig das Aufspüren eines neuen Zugangs zu jenen sagenhaften Gefilden. Es herrscht eine fast meditative Ruhe um mich herum. Alles scheint im Fluss, alles wirkt entschleunigt, schwebend … Ich ziehe ein Halbliterfläschchen Vino Bianco aus meinem Jackett, das ich vorsichtshalber beim Italo – Griechen vorhin erworben habe, und tauche mittels Smartphone in weitere Studien ein. Mich interessiert ganz speziell, wer den Laden hier eigentlich so demoliert hat. Nach dem Einfall der Kostoboken, lese ich, im Jahr 170 n. Chr. und seiner Zerstörung wurde der Tempel letztmals originalgetreu wieder aufgebaut. Jesus Maria! Wer zum Teufel sind denn diese Kostoboken? Davon habe ich ja noch nie gehört. Ich stelle mir ein Verkehrsschild vor: Achtung, Kostoboken auf den nächsten 5 Kilometern. Quatsch! Konzentrier´ dich!
200 Jahre später war´s dann endgültig vorbei, da kamen die Goten unter Alarich I. (im Jahr 395/96) und machten das Heiligtum endgültig nieder. Angeblich um einen Kaiser Theodosius I. einen religösen Gefallen zu tun. Ich habe da meine ganz eigene Theorie. Ich vermute nämlich, dass Alarich mal ein bisschen relaxen wollte vom ewigen Verwüsten und Brandschatzen. Da hat ihm ein Kumpel gesagt, fahr mal da runter zu den Helenen, lange weisse Strände, kristallklares Wasser und Weiber wie Göttinen. Und dann ist er losgezogen, der Alarich, vorsichtshalber mit Streitmacht, man kann ja nie wissen. Seine angetraute Brunhilde, Ehefrauen hat man ja damals nicht so gern mitgenommen, durfte ihm noch schnell eine Kettenbadehose (aus Kettenhemdmaterial) zusammenklöppeln. Damit stand dem antiken Beach – Fun nichts mehr im Wege. Ja, und dann stand er endlich da, nach ein paar Monaten strapaziösem Anritt, am „Strand“ von Eleusis, in der schicken neuen Bermuda – Kettenbadehose, das Wolfspelz – Handtuch lässig über der Schulter, und was war? Kaum Strand, nur so götterfromme Reformhaus – Weiber, und vermutlich steckte obendrein ein havarierter, halber Streitwagen im Sand und ein paar leere Amphoren kullerten provokativ in der äusserst mässigen Brandung. Ja also bitte, dann war wohl endgültig Feierabend, dann riss er, der gotische Geduldsfaden. Wenn der Gote mal so richtig in Wut gerät … – da, schaut euch nur hier um.
Meine Theorie erscheint mir durch und durch plausibel, doch gilt es nun, sie mit harten wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Nach ziehen der Spülung, betrete ich das Feld der Forschung. Ich wähne mich zunächst allein, begebe mich zu einen Haufen aufgetürmter Trümmerteile und inspiziere das Material auf Risse und Spalten. Wir erinnern uns, was steht noch auf meiner archäologischen To do – Liste? Richtig, kleines Bruchstück (Reliquie, Religionsgründung, usw.) entnehmen und sichern. Zu diesem Zweck führe ich ein Schweizer – Messer mit mir, mit dessen Dosenöffnerfunktion ich nun den Kalksandstein bearbeite. Im Augenwinkel wird mir eine Bewegung gewahr. In knapp 100 Metern Entfernung hat eine junge Frau, mit dicken, kurzen Beinen, Brille und Pferdeschwanz Position bezogen. Das rote T – Shirt weist sie unwiderruflich als Wächterin des Heiligtums aus. Sie mustert mein Treiben bewegungslos. Spontan entschliesse ich mich zu dem beliebten Kinderspiel „Ei, wo isser denn?“ Ich tauche ab und bewege mich im Schutz des Steinhaufens ein paar Meter weiter. Dann tauche ich wieder auf und lächle sie an. Dies wiederhole ich noch zwei – bis dreimal mit wechselnder Grimassierung. Das scheint ihren Humor nicht wirklich zu treffen. Angestachelt von diesem zähen Publikum, versuche ich mich in einer bekannten Monty – Python – Nummer: „The Ministry Of Silly Walks“. Dabei bewege ich mich in extrem merkwürdigen Schrittbewegungen in Richtung der Säulenhaufen, tauche dahinter ab und verharre einen Moment still. Nebenbei entdecke ich einen kleinen Riss in vor mir liegendem Pylon, in welchem ich sofort das Messer ansetze. Und tatsächlich, es platzt ein winziges Teil ab, kaum grösser als ein zehner Maschinenschraubenkopf. „Yes“, entfährt es mir spontan. Ich klaube die Beute auf und stecke sie ein. Hinter mir, keine 10 Meter entfernt quäkt derweil ein Walky – Talky . Die Fleischige mustert argwöhnisch mich und die Geschehnisse aus nächster Nähe. Ich weiss zwar nicht, was sie tatsächlich mitgekriegt hat, aber es ist definitiv Zeit, den Rückzug anzutreten, zumal aus Richtung des Museums zwei kräftige, rotbekleidete Gestalten sich zügig auf den Weg gemacht haben.
„Mein Name ist Kaiser von der Kostoboken Sach- & Leben“, höre ich mich sagen, „ich bin hier um etwaige Schadenersatzansprüche der Geschädigten Demeter im Hinblick auf etwaige Vor – bzw. Nachbeschädigungen durch Dritte und gegebenenfalls auch auf Verjährungsfristen hin zu überprüfen. Ist ja kein Stein mehr auf dem anderen, wenn ich mal so sagen darf, hohoho. Aber dafür sind wir ja da.“
Ich bin mir sicher, sie versteht keinen Ton. Während ich so rumschwadroniere, bewege ich mich betont unhektisch gen Ausgang.
„I´m Mr. Kaiser, from the Kostoboken – Insurance Ltd., I´m hear to …”
Der Versuch in Englisch scheitert an einem eklatanten Vokabeldefizit, was letztendlich egal ist, da der Text inhaltlich eh dem sogenannten Bull – Shit zugerechnet werden darf, und das eigentliche Ziel, der Ausgang, längst erreicht ist.
„Sorry, I forgot my card in the Hotel, but I´ll give you a call as soon as possible …” Lässig winkend passiere ich den Ausgang, bevor die vermeintliche Verstärkung eintrifft. Ohne Umwege suche ich das bekannte Bistro gegenüber auf und finde einen behütet wirkenden Platz unter einem knorrigen Olivenbaum. Puh, das war´s erstmal. Ich bestelle Espresso und Gebäck. Verstohlen ertaste ich das kleine Steinchen in meiner Hosentasche.
„Alles wird vergehen, du wirst bleiben“, spricht der neue Religionsgründer vergnügt und weise in sich hinein. Dann zieht er sein Buch aus der Jackentasche und beginnt ein wenig zu lesen.

„Hello, is everything okay?“ Eine junge Kellnerin rüttelt an meiner Schulter. Ich blicke verwirrt um mich. Aaah, das Bistro. Ich komme wieder zu mir. Muss wohl eingeschlafen sein. Ein dünner Speichelfaden hängt in meinem Mundwinkel. Unangenehm. Ich lächle schüchtern und wische ihn weg. Sie ist wirklich sehr freundlich, hat sogar ein Glas Wasser hingestellt. Vermutlich kennt sie das von ihrem  Grossvater daheim. Ich bezahle meine Rechnung und verlasse diese äusserst angenehme Oase inmitten mystischer Ödnis. Ein bisschen Bewegung wird mir gut tun, dem leichten Brummschädel auch. Auf dem Weg checke ich mein Smartphone. Es sind Unmengen von Bildern angekommen. Nana lebt! Sie kündigt sogar ihre baldige Rückkehr an. Es ist später Nachmittag. Ein leichter Wind zieht vom Meer herauf. Ich spüre, dass sich das Mysterium irgendwie entzaubert hat. Vielleicht war nie ein Zauber da, oder nur bis dieser Alarich kam, zur Zeit eher nicht. Bei mir jedenfalls nicht. Schade.
Ich stehe am „Strändchen“ und blicke nach Westen. Wolken verstecken den Sonnenuntergang. Ein paar Tropfen wehen mir ins Gesicht, ich stelle reflexartig den Jackenkragen hoch. Irgendwo da draussen müssen ein paar illegal abgestellte Schiffswracks vor sich hinrosten. Ich vermute, hinter der Zementfabrik. Könnte sein, könnte nicht sein, ich werde es herausfinden. Aber nicht jetzt.
In einem Supermarkt kaufe ich Wein, Käse, Oliven und noch allerlei sonstige Leckereien. Nana vermeldet, sie sässe schon im Zug, ich vermelde meine grosse Freude darüber und baldige Ankunft im Apartment. Sie trifft tatsächlich schon wenige Minuten nach mir ein.
Es gibt beiderseits viel zu berichten. Sie wartet mit einem umfangreichen Bildvortrag, Athen á la Nana, inklusive Akropolis, auf, ich gebe wissenswertes über die Historie des ehemals heiligen Eleusis zum Besten, lasse aber das alberne Versteckspiel mit der Dicken aussen vor. Desweiteren gebe ich meine neusten Erkenntnisse zur fehlenden Magie der Kultstätte bekannt, die ich mehr oder weniger auf einer Toilette sitzend gewonnen habe (was ja schon für sich selbst spricht), zeige den kultigen Stein vor und erkläre das Projekt „Mysterium“ hiermit für beendet.
„Man muss auch mal loslassen können“, kommentiert Nana treffend.
Wir trinken Wein, essen Oliven, und lassen den lauen Abend auf uns zukommen. Vom nahen Autobahnzubringer bläst Zeus in sein Horn. Sie küsst mich sanft, und ohne, dass ich etwas tun müsste, wird sie zur Heldin meiner ganz persönlichen Mystik.

Back to Top