Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 1 – Zagreb
Zagreb. Der Wind peitscht den Regen über das Rollfeld. Ich werde Nana dort treffen. Es kommt mir immer noch irgendwie kurios vor, aber ich freue mich wahnsinnig. Nein, ich bin sogar komplett aus dem Häuschen. Das hat ein bisschen was von Jet Set, ich, der polyglotte Weltbürger, ich treffe meine Geliebte auf dem International – Airport von… – BAM! – Zagreb. Äh, ja …
Gut, wie der aufgeweckte Leser sicherlich schon geschlussfolgert hat, ich treffe selten Geliebte auf irgendwelchen Flughäfen. Das liegt zum einen daran, dass ich doch recht selten auf eben jenen verweile, zum anderen, dass meine Geliebten, wenn überhaupt vorhanden, in aller Regel gleich in meiner Heimat ansässig sind. Das sorgt nicht zuletzt für eine etwas günstigere CO2 – Bilanz meinerseits. Darf hier auch mal gesagt werden. Aber das soll jetzt nicht das Thema sein.
Wir befinden uns bereits im Sinkflug. Das Turboprop – Aggregat summt zuverlässig wie ein Bienchen neben meinem rechten Ohr. Vor anderthalb Stunden sind wir in Frankfurt gestartet. Wir, das ist ein ziemlich durchmischter Haufen von etwa 80 Personen, die zumindest eines gemeinsam haben, sie wollen nach Zagreb. Warum auch immer.
Vor einer Viertelstunde hat der Pilot von Croatia Airlines, nennen wir ihn Slatko, etwas in sein Mikrofon gekrächzt, es war auf kroatisch, mutmasslich, hätte aber auch gut und gerne ungarisch oder arabisch sein können. Es dürften die üblichen Angaben gewesen sein, die Verkehrspiloten überall auf der Welt zum Besten geben, das Wetter an der Destination ist solala, sie freuen sich wie Bolle, dass du dabei warst, und dass der Anflug etwas holprig sein könnte, hoppala. Danke für die Info, Slatko, ich habe nichts verstanden.
Die Maschine sackt kurz ab. Hoppala – sag ich doch! Immerhin, das Aggregat klingt weiterhin unbeeindruckt gleichmässig. Dafür wird das Geruckel jetzt intensiver. Vielleicht setzt Slatko auch zu einem extravaganten Flugmanöver an, verabredet mit den Kollegen an Ziel, die schon begeistert jolend am Tower warten. Hurra, da kommt er, der Rote Baron des zivilen Luftverkehrs. Ich überlege kurz, ob ein Looping mit diesem Fluggerät machbar wäre, verwerfe den Gedanken aber schleunigst wieder. Dafür verwirft es die Maschine ruckartig nach links. Die junge Mutter neben mir schaut besorgt in die gegenüberliegende Sitzreihe zu ihren zwei kleinen Kindern. Die maulen rum, weniger besorgt, eher gelangweilt. Ich blicke herab auf ländliches Gebiet, grau, braun, grün, ab und zu Wolkenfetzen, kleine Häuser, ein einsamer Lieferwagen zuckelt über die Landstrasse. Trostlos, Aprilwetter deluxe.
Die Flugbegleiterinnen sitzen bereits angeschnallt. Die Maschine zittert kurz, es knirscht in den Stossfängern, ein leichter Hüpfer, fast spielerisch elegant, die Maschine bremst ruckartig ab, wir rollen aus. Kein Looping, keine Rolle, unspektakulär.
Der Regen perlt über mein Bullauge, ich sehe verschwommen ein relativ modernes Flughafengebäude, nicht sehr gross, mittlere Ferieninseldimension, ein paar Gates zum andocken, aber keine Flugzeuge dran. Offenbar kein Drehkreuz des Luftverkehrs, die kroatische Hauptstadt. Die Anwohner werden dankbar sein. Meine Maschine parkt rechts neben dem Gebäude. Da stehen noch ein paar Maschinen ähnlichen Formats wie eine Herde Kühe im kräftigen Landregen. Wir laufen gut 100 m über das Vorfeld. Die meisten Passagiere haben keinen Schirm dabei, einige joggen bereits, ich halte meine kleine Plastikreisetasche über den Kopf. Was heisst eigentlich „Wilkommen in Zagreb“ auf kroatisch, denke ich so vor mich hin. Dann geht es durch eine Glastür, die Treppe hoch, es riecht nach Neubau und scharfen Putzmitteln. Ich bemühe mich um Orientierung, ich will ja schliesslich im Flughafen bleiben und später weiterreisen, Transit, mit Nana, falls irgendwann ein anderes Flugzeug dafür bereitgestellt wird. Ich erreiche unbehelligt die Abflughalle und zu meiner Überraschung verlieren sich tatsächlich etwa ein bis zwei Airbus A 320 Passagierladungen in selbiger, denen offenbar weiterer Flugbetrieb in Aussicht gestellt wurde. Das stimmt mich optimistisch. Es gibt eine Cafeteria, Geschäfte mit dem üblichen Flughafen – Krimskrams, überteuerte Mode, Schnaps und Zigaretten.
Es ist noch Zeit genug bis zum avisierten Weiterflug. Ich verziehe mich mit einem Espresso in eine Ecke der Gastronomie mit Blick auf das Treiben in der Halle. Der Espresso ist nicht gut, dafür teuer, eine international weit verbreitete Kombination, an die ich mich nur schwer gewöhnen kann. Was soll´s, das ist nun wahrlich nicht das grösste Problem dieser Welt.
Ich könnte Nana nerven und mal anrufen? Demnächst, wenn ich schon im anderen Flieger sitze und sie immer noch nicht da ist – harharhar. Mein kleiner, etwas sarkastischer Lacher am Ende des Satzes mag dem ein oder anderen seltsam vorkommen, erklärt sich aber aus der Tatsache, dass Reisen mit Nana gleichzeitig bedeutet, den Bereich des Kalkulierbaren komplett zu verlassen. Ich weiss das zwar, es macht mich trotzdem jedesmal wieder nervös. Ich warte mal noch eine halbe Stunde. Wenn ich so früh anrufe, macht sie sich nur lustig über mich. Wahrscheinlich ist sie eh schon im Anmarsch, ganz sicher.
Eigentlich heisst sie gar nicht Nana. Sie hat halt dunkle lange Haare und eine schwarzgerandete Brille. Im Hinblick auf unsere bevorstehende Griechenlandreise, ist das, zugegeben, eine etwas plumpe Assoziation, aber mir gefällt´s. Und eigentlich war es auch gar nicht geplant, dass wir uns hier in Zagreb treffen, um nach Korfu weiterzufliegen. Also, bei mir schon. Gut, das ist jetzt eine etwas vertrackte Geschichte, die ich versuche kurz zusammen zu fassen.
Nana, eine lebhafte, unternehmenslustige Person, trug sich eines Tages mit dem Gedanken, dem fortschreitenden Alter, sowie latenten Wissensdurst zu trotzen. Als geeignetes Medium erschien ihr eine mehrwöchige Reise, um mit den ihr unbekannten Teilen unseres Planeten in Kontakt zu treten und sich von den Impulsen anderer Kulturen eine Weile triggern zu lassen. Oder so. Und natürlich zu fotografieren, das ist ihr Job und ihre Passion.
Der paralell existierende Lebensabschnittsdingsbums, also ich, wäre hierbei eine eher störende Komponente, könnte aber, wegen guter Führung im Allgemeinen, und im Besonderen, am Ende der Fahrt dazustossen. So geplant und mit einfacher Mehrheit verabschiedet, trat sie die Reise ins Ungewisse an. Das Ungewisse war in diesem Fall sozusagen in und um den Balkan gestreut, von Ende März bis Ende April, und da speziell auch ein paar europäische Kulturhauptstädte dabei, was auch immer das sein mag. Ein verwegener Plan? Nicht für Nana! Ich muss gestehen, dass mir der Balkan etwas fremd, bzw. nach den kriegerischen Auseinandersetzungen des Ex – Jugoslawien der Neunziger auch nicht sonderlich gut beleumundet war.
Wie dem auch sei, musste sie die Reise nach einer Woche wegen gesundheitlicher Probleme im familiären Umfeld unterbrechen und zurückkehren. Nachdem man das glücklicherweise in den Griff bekommen hatte, beschlossen wir, zumindest mal die Endphase der geplanten Exkursion, also den gemeinsamen Teil, wieder aufzunehmen, zumal ja bereits meine Anreise nach Korfu inklusive Unterkunft und die gemeinsame Rückreise aus Athen gebucht waren. Nana gelang es dann, kurzfristig einen Flug Frankfurt – Zagreb zwei Tage vor meinem, und Zagreb – Korfu in meiner Maschine zu buchen. Zur Info, dass da Zagreb da überhaupt mitspielt, liegt an dem frühen Reisezeitpunkt (Mitte April) und den günstigeren Tarifen, die ein bekanntes irisches Luftfahrtunternehmen auf dieser Route offeriert.
Zurück zur Geschichte, zurück zum Zagreb – International. Es war noch ein wenig Zeit zu überbrücken, Zeit den eigenen Horizont zu erweitern. Wenn ich ein fremdes Land bereise, versuche ich stets, die einheimischen Sitten und Gebräuche, bzw. Spezialitäten zu würdigen. Oft gelingt das über den kulinarischen Sektor. Nach dem eher enttäuschenden Erlebnis mit dem Espresso, der ja zweifelsohne nicht zu den landestypischen Spezialitäten zählt, studiere ich die Karte und entdecke ein Produkt namens Slivovitz, ein Getränk, was mir seit meiner Jugend völlig aus dem Gesichtsfeld entschwunden ist, aber nach meiner Erinnerung eindeutig dem hiesigen Kulturkreis zugeordnet werden darf. Ich entschliesse mich spontan zu einer Aktion gegen das Vergessen und begebe mich zum Tresen. Die junge weibliche Servicekraft würdigt meinen Einsatz zur kulturellen Aufarbeitung eher zurückhaltend bis gar nicht, dafür schenkt sie grosszügig ein. In der goldfarbenen Flüssigkeit spiegelt sich nicht nur die schale Neonbeleuchtung der Cafeteria wieder, nein, in meinem Herzen schiebt sich gar eine komplette Dia – Vorführbox in den Projektor der Erinnerung, Klassenfahrt nach Yugoslawien, Grillteller „Lustiger Bosniak“, schlechter Rotwein mit Limo, Marschall Tito und Winnetou, ach du Scheisse … Ich setze das Getränk an. Ein scharfer Geruch deutet die bevorstehende Kollision meines Organismus mit dem Aggressor an. Ich schliesse die Augen und lass es geschehen. Es sind diese Grenzerfahrungen, die die Menschheit seit je her voran bringen, rede ich mir ein. Leicht hüstelnd und mit hervor getretenen Augen verfolge ich die Arbeit der Flüssigkeit beim Ausbrennen meiner Speiseröhre, um dann final irgendwo in die Magengegend einzubrechen. Das tiefe Schnaufen dürfte auch der Servicekraft nicht verborgen geblieben sein. Sie schaut mich aus den Augenwinkeln an. Jetzt erst, auf den zweiten Blick, fällt mir ihre verborgene, ja fast tiefgründige, wenn auch nachblondierte Schönheit auf. Jaaa, der Balkan, das ist der Balkan! Ob Lothar Matthäus wohl auf ähnliche Weise zu dieser Erkenntnis kam?
Ich versuche Gelassenheit in meinen Gesichtsausdruck zu zaubern. Gelingt so semi. Die Bestellung eines weiteren Slivovitz geht wohl auf das Konto eines reichlich angestaubten Männlichkeitswahns (Alter – Weisser – Mann – Syndrom), den ich schon längst verbannt wähnte, der sich aber offenbar hartnäckig irgendwo in meiner Unterwäsche festgebissen hatte. Ich tippe lässig mit dem Zeigefinger auf das Glas und deute eine Eins an. Sie versteht.
Das Klacken eines Paar Stiefelabsätze aus Richtung der Ladengalerie bringt mich zurück in eine andere Wirklichkeit. Nicht nur meine, einige Augenpaare wenden sich in Richtung der da zackig Herannahenden, elegante Sonnenbrille, die dunklen Haare mit einer Klammer hochgesteckt, enges Lederjäckchen, silbernes Rollköfferchen – ein bisschen wie im Film, aber so ungefähr habe ich mir das vorgestellt: Nana.
Ich kippe den zweiten Slivovitz runter. Ein Reflex? Womöglich. Keine Ahnung. Jedenfalls nicht meine beste Idee heute. Die Servicekraft stellt mir ungefragt ein Glas Wasser hin. Ich lösche die schlimmsten Brandherde, die kurzzeitige Atemnot lässt nach, der Schwindel auch. Nana hat mich noch nicht entdeckt. Gut so. Sie späht die Halle auf und ab. Aus einer anderen Richtung taucht plötzlich eine komplette Crew auf, die Piloten in mittelblauen Anzügen mit dem Streifengedöns und schneidigen Mützen, im Gefolge vier Flugbegleiterinnen in seltsam puff – altrosa – farbigen Kostümen, Rollköfferchen obligatorisch. Das sieht eher nach Travestie – Show, denn seriösem Flugbetrieb aus. Vermutlich fangen sie gleich alle an zu singen und zu tanzen. Inklusive Nana. Und Sammy Davies Jr. steppt dazu. Und Marlene Dietrich winkt aus einem vorbei fliegenden, brennenden Zeppelin, und ...
Junge , Junge, Teufelszeug, dieser Slivovitz. Ich schüttle mich noch einmal, dann winke ich Nana zu. Sie kommt rüber, wir umarmen uns, wir küssen uns, sie schnuppert skeptisch an meinem Mund, ich sage nichts, küsse sie nochmal. Die zahlreichen Augenpaare wenden sich wieder ab. Die Crew ist weitergezogen, niemand singt, niemand tanzt. Wäre trotzdem schön gewesen. Ich erwäge kurz, ein Musical zu schreiben: „Zagreb, …“, – ähem, ich vergesse das Ganze mal lieber wieder.
Ein Blick auf die Uhr verrät, dass wir eigentlich schon Boarding haben müssten. Und richtig, in den Pulk vor einem der Gates ist ordentlich Bewegung gekommen. Also, wirklich zu früh wäre sie ja nicht angekommen, gebe ich zu bedenken, während wir uns in die Schlange einreihen. Sie seufzt kurz auf und erzählt dann eine Geschichte, von der ich vorteilhafter Weise vorhin noch nichts wusste. Jedenfalls wäre sie superpünktlich da gewesen, aber irgendwas mit der Buchung sei schief gelaufen, daraufhin Pallaver am Schalter, Schuldzuweisungen hin und her, beidseitiges Unverständnis, bis dann endlich eine Problemlösung gefunden wurde. Wie immer in solchen Fällen, ist die Lösung eine finanzielle, und man hat danach das Gefühl, einen Privatjet gechartert zu haben. Meine Begeisterung ob dieser Story hält sich natürlich in Grenzen, zumal ein Teil meiner Aufmerksamkeit noch mit der Verarbeitung der folkloristischen Spirituose beschäftigt ist. Aber, versuche ich das Positive in den Vordergrund zu rücken, immerhin wäre doch damit unser übliches Reise – Desaster – Katastrophen – Potential schon abgearbeitet und wir könnten ab jetzt quasi tiefenentspannt in die Zukunft blicken. Ich überlege kurz, ob ich selbst glaube – Nein!
Durch die Glasfront erkenne ich ein Fluggerät der Firma Lauda Air, ein Airbus, welcher offenbar für unserem Weitertransport angeheuert wurde. Der muss irgendwo aus dem Nichts gekommen sein, denke ich. Wer steuerte die Maschine an dieses gottverlassene Gate in Zagreb, wenn nicht gar der Firmengründer, die verstorbene Rennsportlegende selbst? Ein erstes Mysterium? Nebelschwaden wabern. Ein leichter Schauder durchzieht meinen Körper.
Im Nachhinein kann ich eines mit Gewissheit sagen, schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Reise deutete sich etwas an, was uns die ganze Zeit hartnäckig begleiten sollte. Also, nicht der tote Österreicher, nein, es ist diese metaphysische Ebene, dieser besondere Stern, unter dem alles zu stehen schien.
Wir betreten das Flugzeug. Es ist nichts Übersinnliches erkennbar. Ausser man zählt das puff – altrosa Outfit der Flugbegleiterinnen dazu. Möglicherweise hat Niki Lauda diese Kostüme selbst entworfen, der Tausendsassa. Quasi sein Vermächtnis. Ich habe allerdings das Gefühl, man bekommt so etwas wie Augenkrebs, wenn man zu lange darauf schaut.
Glücklicherweise ist der Flug mit nur knapp anderthalb Stunden angegeben. Aus dem Cockpit kommt einer der Mittelblauen und hält ein entspanntes Schwätzchen mit einer Altrosanen. Puh, das beruhigt mich dann doch, damit wäre auch geklärt, wer das Ding fliegt, es ist ein Musicaldarsteller. Immer noch besser als ein Untoter.
Wir nehmen unsere Plätze ein. Ich freue mich schon, wenn Nana beim Start nach meiner Hand greift. Das macht sie immer. Das ist schön. Dafür lieb ich sie. Unter anderem.
Der Regen peitscht über das Rollfeld. Was soll er auch sonst tun, wir sind schliesslich in Zagreb. Die Altrosanen tanzen uns die Sicherheitsvorkehrungen vor. Gut, dass sie keine Katzenkostüme anhaben, fällt mir dazu ein, das würde ich dann echt nicht mehr aushalten. Wir rollen los. Kurz glaube ich, Niki Lauda in Warnweste da unten stehen zu sehen. So ein Unsinn!

Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 2 – Korfu (Kerkyra)

Es hat aufgelockert, tatsächlich scheint die nachmittägliche Sonne ab und zu durch die Wolken. Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in Sinkflug. Ein Satz von geradezu fataler Prägnanz, würde man das ganze Weltgeschehen damit beschreiben wollen. Aber so weit will ich nicht gehen, nicht jetzt, nicht in einem österreichischen Ferienflieger mit karnevalesker Besatzung.
Ich beuge mich etwas über Nana, um links aus dem Fenster zu gucken. Im Hintergrund erstreckt sich das graubraune Band des Festlandes, im Vordergrund direkt neben, bzw. unter uns ein breiter, besiedelter Landstreifen im Meer, es lässt sich schon einiges zu erkennen, Häuser, Strassen, Olivenhaine und sonstiges Zivilisationsgelärsch (Gelärsch – siehe Hessenlexikon) in hügeligem Gelände. Nach meinen Berechnungen müsste das Korfu sein, ich meine sogar vor kurzem Korfu – Stadt aufgrund der markanten Festungsanlage erkannt zu haben. Der Pilot fliegt allerdings weiter stur nach Süden. Ich hege den Verdacht, dass die Musical – Crew mit der Lektüre des Librettos für ihr nächstes Engagement beschäftigt ist und erst wieder über Ost – Lybien auf die Instrumente schaut. Seit Zagreb sind die mir irgendwie nicht ganz geheuer. Gerade überlege ich, wie ein entsprechendes Alarmszenario meinerseits aussehen könnte, mir kommen bereits die ganzen Flugkatastrophen – Filmklassiker in den Sinn, da schwenkt die Maschine stark nach links ein und fliegt dann auf der anderen Seite der Insel zurück. Wusst´ ich´s doch! Jetzt sind wir schon so niedrig, dass ich mich kaum noch über meine Geliebte beugen muss, um hinaus zu sehen. Ich mache es trotzdem. Sie riecht halt gut.
Wieder erscheint Korfu – Stadt , wir fliegen abermals vorbei, diesmal nach Norden. Haben wir irrtümlich einen Rundflug gebucht, oder sollte sich hier etwa das nächste Mysterium ankündigen? Es wabern allerdings keine Nebelschwaden. Also, nein! Dafür unvermittelt eine scharfe Linkskurve über dem Meer, zwei Minuten später über bebautes Terrain, so tief, dass man den Kaffeesatz in den Tassen der Bewohner erkennen kann, und schon ist alles vorbei, die Maschinen heulen im Gegenschub, einige Passagiere klatschen. Okay, die Musicaldarsteller nehmen den Beifall ungerührt entgegen, Routine. Also, eine kleine Verbeugung hätte ich mir schon gewünscht.
Der Flughafen ist niedlich. Man hat hier eine Landebahn in eine kleine Bucht neben der Stadt betoniert, quasi auf Meeresspiegelniveau. Ich sag mal, da dürfen die Polkappen nicht mehr allzu viel abschmelzen, sonst wird aus Korfu – International ein Freibad. Das Rollfeld überschreitet insgesamt kaum die Grösse eines Baumarkt – Parkplatzes in der Wetterau. Immerhin steht ein weiterer Jet dort. Das sind satte 100% mehr, als auf Zagreb – International. Respekt! Aber ein Vorteil ist sofort augenfällig, man hat es nicht so weit, weder vom Flugzeug zum Gebäude, noch von demselben in die Stadt. Eigentlich könnten wir komplett zu Fuss gehen, wenn da nicht das Gepäck wäre.
In der überschaubaren Halle steht ein Mann mittleren Alters mit Stirnglatze und kariertem Hemd und hält ein Schild mit meinem Namen hoch. Wow, das hatte ich noch nie. Und ausserdem völlig vergessen, dass ich dieses Angebot gebucht hatte. Aber gut, einmal ist immer das erste mal, man  fühlt sich auf jeden Fall wahrgenommen.
Wir verständigen uns in diesem herrlich akzentbelasteten Urlaubs – Englisch, das scheinbar jeder auf dieser Welt kann. Er meint, er sei der Taxifahrer, die Fahrt dauere ungefähr fünf Minuten. Er könne aber nicht direkt vor die Tür fahren, not possible, warum auch immer. Nach der kurzen Fahrt (fünf Minuten ist nicht untertrieben) wird klar, was er versucht hatte anzudeuten. Wir befinden uns in einer verwinkelten Altstadt, die für den Strassenverkehr denkbar ungeeignet ist. Er lässt uns an einer Ecke raus und erklärt, es komme jemand, quickly, quickly. Ich entrichte den Fahrpreis, der sich, wenn ich ehrlich bin, mehr nach fünfzehn Minuten Fahrt anfühlt. Egal. Ich sage nichts.
Tatsächlich kommt dann jemand (aber nur mässig quickly), eine junge Frau, sehr freundliches Akzent – Englisch, und zwei Ecken weiter beziehen wir ruckizucki unser Appartement, zwei Zimmer, Dusche, dritte Etage, Altbau … – läuft doch!
Die Stimmung ist gut. Ich unterdrücke mein Misstrauen ob des geradezu reibungslosen Ablaufes unserer Ankunft und schlage den Besuch eines Restaurants in der Umgebung vor. Das Dämmerlicht kündigt bereits den Abend an. Ein Umstand, der Nana regelmässig in Ekstase versetzt, also, das Licht, nicht der bevorstehende Gaststättenbesuch. Jetzt ist das beste Licht zum fotografieren, gibt sie dann gebetsmühlenartig bekannt, um anschliessend für Stunden mit der Kamera zu verschwinden. Mein Magen tut gerade anderes kund. Wir einigen uns auf einen Kompromiss, ich lade sie zum Essen ein, sie geht morgen erst los.
Wir erreichen nach ein paar Metern einen mässig belebten Platz mit aussreichend gastronomischem Angebot. Die klimatischen Verhältnisse lassen einen Aufenthalt im Freien zu, wenn man eine (Übergangs-) Jacke überzieht. Insgesamt habe ich mir etwas höhere Aussentemperaturen vorgestellt. Aber immerhin, es regnet nicht. Und wenn dann irgendwann ein Tintenfisch oder ähnliches vor mir liegt, setzt mit sofortiger Wirkung das entspannte Urlaubsgefühl ein. Nana wirkt auch gelöst und sieht ausserdem bezaubernd aus. Es ist die Formkraft der Glückserwartung, die Frauen schön macht, schrieb einmal ein geschätzter Kollege, ich glaube es war Wilhelm Genazino. Schlaumeier.
Ich giesse Wein nach. Eine dreadlockige Ausführung des jungen Alexis Sorbas gibt auf einer schlecht gestimmten Gitarre eine Zusammenfassung der nervigsten griechischen Folklore – Kracher zum Besten. Ich frage mich, ob das schon unter die Genfer Konvention fällt.
Auf dem nahen Kirchturm kündet ein Käuzchen von sich zusammenbrauendem Ungemach. Mag es nur ein winzig kleines Gewitter sein, das flüchtig polternd unser Idyll streift, oder gar die kreischende Apokalypse, die höchstpersönlich ihre Aufwartung macht? Wir jedenfalls ahnen nichts, als wir Hand in Hand die malerischen Gassen durchstreifen, um dann in unserem neuen Domizil unschuldig wie Kinder die Vorhänge des Schlafgemachs zu schliessen.
Es ist so etwas wie Blasmusik, dass mich aus süsser Umarmung erwachen lässt, von Ferne zwar, aber gänzlich unerwartet in diesem Umfeld. Der Tag ist bereits angebrochen, wenn auch noch nicht allzu fortgeschritten, kein Grund also, sich zu beschweren. Nana räkelt sich. Die Zeichen stehen auf Koffein. Ich pflege den Morgen gerne mit einem Espresso oder Cappuccino anzukurbeln, bei Aufenthalten in mediteranen Gefilden unbedingt aushäusig. Nach zügiger Ausführung der allernötigsten Restaurierungsarbeiten ist das Erscheinungsbild einigermassen ansehnlich und wir begeben uns in ein nahes Strassencafe. Es ist kaum noch Platz. Im Vergleich zu gestern scheint sowieso eine enorme Zunahme an Betriebsamkeit auf der Strasse stattgefunden zu haben. Na, da wird wohl irgendein Wochenend – Remmidemmi angekündigt sein, denke ich, ohne ein wirkliches Ausmass einschätzen zu können. Der Kaffee dampft, was soll ich mir Gedanken machen, wir beginnen unsere Tagesplanung.
Das Konzept steht relativ schnell, es ist ein ebenso simples, wie bewährtes Modell, bereits auf verschiedensten Exkursionen erfolgreich erprobt: Nana und Fotoapparat rennen los, ich hinterher. So lerne ich innerhalb weniger Stunden die gesamte Altstadt nebst Neustadt und Vorstadt (ggfs. auch Nachbar – und Partnerstädte) kennen. Bisweilen hat mein dandyhaftes Schuhwerk mich auf halber Strecke aussteigen lassen, aber das wurde mir nie übelgenommen. Man muss gelegentlich die richtigen Prioritäten setzen können. Diesmal halte ich durch.
Also, um hier mal die Funktion eines Reiseführers einzunehmen, das ist schon ein ganz netter Flecken, dieses Korfu – Stadt, malerisch auf einem Hügel gelegen, geprägt durch venezianischen Baustil, von zwei ordentlichen Festungen flankiert – mein fachlich fundierte Expertise lautet: dakammerschommahinfahrn.
Nur, Obacht, man sollte die richtige Reisezeit wählen. Wir beschliessen, vom Hafen kommend, den Altstadtberg für heute ein letztes mal zu erklimmen, etwas erschöpft, aber gut gelaunt, um uns in unserem Domizil etwas frisch zu machen und erwartungsfroh den Abendvergnügungen entgegen zu blicken. Schon die Reisebusdichte vorhin am Hafen erschien mir verdächtig. Irgendwas ist im Busche. Im Inneren des Gassengewirrs fühle ich mich endgültig bestätigt. Es wimmelt nur so von lebhaften Griechen jeden Alters. Eine Blaskapelle kreuzt unseren Weg mit ungeheurem Radau. Was haben die alle vor, wo liegt der tiefere Sinn? Fragen, die augenblicklich der Antwort bedürfen. Wir lassen uns auf die Stufen vor einer Kirche sinken.
Ja, ja, dereinst wie heute, in der Not tritt der von Zweifel geplagte Mensch in Kontakt mit dem Herrn, nur heisst der heutzutage Google, nicht mehr Gott, Jehova, oder Maradonna, und einige Gebetslängen weiter bekomme ich tatsächlich ein Netz für die erforderlichen Informationen, die wie Fische im digitalen Ozean umherirren, bereit, unzerkleinert geschluckt zu werden und sich abzulagern in unseren verwundbaren Seelen mit all ihren quecksilberhaltigen Bestandteilen. Und Mikroplastik, nicht zu vergessen.
Jedenfalls, die Vielzahl der viralen Informationen lässt nur einen Schluss zu, es handelt sich bei diesem Event offensichtlich um den grossen Osterauftrieb der griechisch – orthodoxen Glaubensherde. Und damit nicht genug, Korfu gilt dabei als Hot Spot des klerikalen Rambazamba. Wenn du als Grieche sozusagen mal richtig auf die österliche Kacke, bzw. das Osterei hauen willst, dann hier und heute. Die Menge an Ritualen und Bräuchen, die auf dem Bildschirm meines Smartphones dazu auftauchen, übersteigt das Fassungsvermögen meiner Festplatte. Wahnsinn, das wollen die alles auf einmal abhandeln, hier und heute, an diesem Wochenende, unfassbar. Hölle, Hölle, Hölle, wie die schlichtere Volksseele das auszudrücken vermag. Der geneigte Leser merkt vielleicht, ich bin dem Religiösen wenig zugetan.
Weiterhin erfahren wir, dass die zeitliche Verschiebung zu dem uns bekannten Osterfest bei uns daheim in der Anwendung unterschiedlicher Kalender begründet ist. Die einen nehmen den Gregorianischen, die anderen den Julianischen. Herzlichen Glückwunsch. Ich möchte gar nicht weiter auseinander klabustern, wer jetzt welchen warum nimmt, es ist mir, ehrlich gesagt, auch schnurz, aber nur soviel sei gesagt, die einen hinken den anderen um ca. 13 Tage hinterher. Stand: heute. Und diese Zeitschere wird sich im Laufe der Jahrtausende weiter auseinander bewegen. Irgendwann hängt Ostern wahrscheinlich direkt Weihnachten auf der Pelle. Das wird der Einzelhandel auf keinen Fall mitmachen, soviel ist sicher (…wen´s interessiert, zu den Kalendern gibt es genug Material inner -  und ausserhalb des Netzes). Aber mal Hand auf´s Herz, liebe Freunde, wer von euch hat es bei Planung einer banalen kleinen Urlaubsfahrt wirklich im Blick, wo und wann auf dieser Welt sich der reale Irrsinn gerade zusammenballt? Und nach welchem Kalender fliegen eigentlich österreichische Musical – Airlines. Na, bitte!
Wir kämpfen uns weiter durch die zähe Masse der spirituell Teilzeitbewegten und erreichen unser Ziel noch vor Mitternacht. Glücklicherweise hatten wir schon ausserhalb der Altstadt etwas zu uns genommen, denn heute Abend wäre das mutmasslich kein Vergnügen mehr geworden. Ich berufe eine Krisensitzung ein. Nach engagierter Debatte mit einer am Vortag eingelagerten Flasche Wein vertagt sich das Gremium ins Bett. Es soll die Entwicklung der Geschehnisse am morgigen Tag aufmerksam beobachtet werden und ggfs. in Rücksprache mit allen Parteien entsprechend zielführende Massnahmen eingeleitet werden. Ein tragfähiger Kompromiss.
Der Morgen sieht zunächst wie der vorherige aus. Es ist noch früh, vereinzelte Regentropfen, leicht bewölkt. Nur der diffuse Geräuschpegel scheint angehoben, Blasmusik mit Trommeln, Trommeln mit Blasmusik, irgendwo hier in der Gegend. Es ist ja nicht so, dass da temperamentvolle Sambarythmen zum besten gegeben werden, nein, alles klingt getragen und schwermütig.
Mich dürstet nach Kaffee. Nana auch. Unser erster Versuch, das bekannte nahegelegene Cafe aufzusuchen, erweist sich als illusorisch. Der Laden ist gerammelt voll, draussen wie drinnen. Nana meint, über den grossen Platz vor der alten Festung könne man flink die Promenade erreichen, wo garantiert ein entsprechendes Ersatz – Etablissement zur Verfügung stünde. Gesagt, getan.
Die Lage unseres Appartments ermöglicht uns in der Tat über eine Nebengasse auf jenen langgestreckten Platz zu gelangen, die oder der sogenannte Spianada. Das Ding liegt auf einem kleinen Hochplateau, hat ein bisschen was von Stadtpark, mit grossen Rasenflächen, Bäumen an den Rändern, einem Parkplatz, einer Strasse drumherum. Zur Wasserseite hin gelangt man auf die vorgelagerte alte Festung, den nördlichen Rand bildet der alter Gouverneurspalast, am westlichen Rand beginnt sozusagen die Stadt mit einer Promenade stattlicher alter Bürgerhäusern, teils auf breiten Arkaden, die weitgehend von der Gastronomie in Beschlag genommen werden – unser Ziel!
Die Menge der geparkten Autos lässt allerdings schon Ungemach erahnen. Meine Hoffnung auf ein belebendes  Heissgetränk zerschellt jäh an dem sich bietenden Anblick. Halb, nein, ich korrigiere mich, ganz Griechenland, vermutlich sogar inklusive Nord – Mazedoniens und Süd – Albaniens, scheint sich auf jenen wenigen hundert Metern eingefunden zu haben. Warum? Was wollt ihr? Um irgendeinem mysteriösen spirituellen Kult Folge zu leisten böte sich doch auch noch der ganze Nachmittag an. Nebelschwaden wabern. Also, nicht wirklich, die wabern aber garantiert gleich in meinem Kopf, wenn ich nicht bald einen Espresso kriege.
In Richtung des Gouverneurs – Schuppen tut sich was. Nana hat Witterung aufgenommen. Die Kamera ist bereits gezückt. Ein schlechtes Zeichen für Koffeinentzugpatienten.
Mit lautem Getöse nähert sich offenbar eine Prozession. Den Kopf des Umzugs bildet ein Triumphirat, bestehend aus einem Mann mittleren Alters im dunklen Anzug, flankiert von 2 zottelbärtigen Kirchenfürsten in langen Talaren und mit schwarzer Ortho – Cap (Ortho – Cap.: Abkürzung für Kopfbedeckung griechisch – orthodoxer Kirchenmänner). Der Mittelmann sieht aus wie der Bürgermeister, und guckt aus der Wäsche, als hätte ihm gerade ein Schwarm Seemöven auf den SUV geschissen. Der eine Kirchenmann trägt eine Art Monstranz, vielleicht Reliquienschrein, der andere eine Fahne aus schwerem Stoff. Dahinter marschiert eines dieser teuflischen Radau – Orchester, die sich seit gestern seuchenartig in diesem Ort ausgebreitet zu haben scheinen. Ich bin mir ziemlich sicher, ich wohne gerade einem dieser zahllosen seltsamen Brauchtümer bei, die ich gestern gegoogelt und umgehend vergessen habe.
Nana fotografiert, und fotografiert, und als sie dann immer noch fotografiert, kommt mir eine Idee.
Ich mache den Vorschlag, demnächst zurück zu gehen. Da ja alle Griechen dieser Welt aktuell an diesem Platz verweilen würden, spekuliere ich mal ins Blaue, könnte es gut sein, dass unser Cafe um die Ecke jetzt leer ist. Und wenn nicht, gehen wir halt in die Neustadt. Sie willigt ein. Ich seufze erleichtert.
Es ist unglaublich. Innerer Jubel brandet in mir auf. Ich beschleunige unwillkürlich meinen Schritt. Yes! Es ist leer, nobody in there, nennt mich den Meister der Intuition. Das wird mein Tag.
Wir sinken vor einem der Tische in erster Reihe auf die Stühle. Der Kellner kommt, wir bestellen. Tschaka!
Nachdem die dritte Kapelle vorbei marschiert ist, wird es stiller. Auch die handvoll Gäste, die vorher noch da sassen, schleicht sich langsam von dannen. Geht ihr nur, denke ich, um die Ecke wartet bestimmt der nächste rituelle Hokuspokus. Aber diesmal ohne mich. Ich führe den frischen Cappuccino gerade zum Munde, da geschieht es.
Aus dem Nichts schlägt die Granate ein. Äh, oder sowas ähnliches. Genau genommen ist es ein rotes Keramikteil mit Wasser gefüllt, von einem der oberen Stockwerke abgeworfen, welches in etwa drei Meter Entfernung dumpf auf der Gasse zerbirst. Ich erstarre in meiner gerade eingenommenen Haltung, die Lippen genussvoll gespitzt den heissen Kaffee zu schlürfen. Sekunden später knallt der nächste Topf auf das Pflaster. Ein Wasserspritzer streift meine Stirn, ein Streifschuss nur, kein Blut, Gottseidank. In der Ferne grollt Geschützdonner. Irgendwo in der Nähe knallen Sylvesterböller, oder Gewehrschüsse? Wer weiss das schon so genau. Der Kellner im inneren des Cafes gibt mir gestenreich zu verstehen, ich solle etwas in Richtung Hauswand zurückweichen. Dabei scheint er sich ausgesprochen zu amüsieren, was ich seinem derart unverschämten Grinsen entnehme. Als ich dann unter einem Tisch Schutz suche, kriegt er sich kaum noch ein.
Wo ist Nana? Eben sass sie noch da. Hastig spähe ich unter dem Tisch hervor. Dunkle Gedanken vernebeln den klaren Verstand, eine Pulverdampfwolke zieht vorbei (waber, waber). Sollte hier schon alles zu Ende gehen? Nana, entführt von religiösen Fanatikern, zappt es durch meinen überlasteten Arbeitsspeicher. Man liest ja soviel. Ich robbe mich nach vorne und blicke die Gasse entlang, nach rechts, nach links. Der Kellner kämpft mit dem Lachkrampf. Arschloch!
Zwei weitere Kallebassen schlagen in unmittelbarer Nähe ein. Doch da, schräg gegenüber, an die Hauswand gepresst – Nana! Soweit ich sehe, unverletzt, die Haare im Wind, die Kamera im Anschlag. Wie eine Katze turnt sie sogleich durch die Trümmerfelder auf der Strasse, mal in gebückter Haltung, mal gestreckt,  mal schlangengleich flach auf dem Bauch. Die Kriegsberichterstatterin im Mörsergewitter. Meine Nana!
Ein grosser Hund, irgendwas zwischen Lassie und Rasputin, rennt mit gehetztem Blick und eingezogenem Schwanz die Gasse entlang. Wenig später ächzt eine dicke Frau hinterher, unablässig einen unverständlichen Namen ausrufend. Na, der ist erstmal weit weg, junge Frau, rufe ich ihr nach.  
Der Bombenhagel hat nachgelassen. Ich beruhige mich. Der Kellner wischt sich die Tränen von den Wangen. Ich erkenne an den roten Scherben die Krüge, die in der ganzen Stadt von fliegenden Händlern feilgeboten wurden. Ich hatte das für extrem hässliche Souveniers gehalten. So kann man sich irren. Alles nur religiöser Wahn. Hatte ich schon erwähnt, dass ich dem religiösen nicht so … – ah, hatte ich schon.
Nana findet sich auch wieder ein. Etwas ausser Atem, aber mit diesem glücklichen Glitzern in den Augen, dass ich so an ihr liebe. Obwohl sie ja auch einem Wahn verfallen ist, wenn man es recht betrachtet. Ach ja, der Wahnsinn greift doch immer mehr Raum in diesen Tagen, auf dieser Welt, und überhaupt ... Ich bestelle 2 Ouzo. Der Kellner bedeutet mir, die gingen auf´s Haus. Dabei lacht er schon wieder. Das ist echt Wahnsinn!
Die Gemüter, wo auch immer sie rumgezündelt haben, haben sich offenbar beruhigt, das Cafe füllt sich langsam. Eine Blaskapelle zieht atonal vorbei. Wir halten Kriegsrat. Ich stelle den Antrag, den Kessel von Korfu – Stadt zu verlassen und nach Süden durchzubrechen. Nana ist dabei. Es gelingt uns in Nähe des Flughafens ein brauchbares Gefährt zu mobilisieren, einer dieser typischen südeuropäischen Kleinwagen, die es auf nahezu allen Inseln des mediteranen Raumes zur Miete gibt. Das passt! Wir durchstossen um die Mittagszeit unbehelligt die Stadtgrenze und fühlen uns frei, entspannt, schwerelos. Leider gibt sich das Wetter nicht ganz die erhoffte Mühe, es spielt enthemmt auf allen Lagen seiner Klaviatur: Wolkenfetzen – Sonne – Wolkenfetzen – Regen – Wind – Wolkenfetzen – Tideldi – Tidelda.  Uns ist es egal, wir fahren durch sanfte Hügel in frühlingshaftem Grün, auf abgelegenen Landstrassen durch verschlafene Orte. Wir essen in einem nicht – überfüllten Restaurant eine erschwingliche Mahlzeit. Und keine Blaskapelle, nirgendwo. Ab und zu lassen sich ein paar rote Scherben auf dem Boden finden und künden von jenen gar sonderbaren Ritualen der Eingeborenen, die zu fliehen uns nötigten. Aber das ist vorbei.
Nach unbehelligter Runde durch ländliche Gefilde kehren wir am Abend zum Brennpunkt zurück. Es dauert eine Weile, bis wir einen Parkplatz finden. Das deutet auf eine weiterhin maximale Präsenz des klerikalen Feiervolkes hin. Ich bemerke eine leichte Verhärtung der Nackenmuskulatur, Nana zuckt nervös in den Augenwinkeln. Wir verlassen hastig unser Fahrzeug und huschen zwischen lautstarken Blaskapellen und erschöpften Betrunkenen, wahlweise zwischen erschöpften Blaskapellen und lautstarken Betrunkenen, zu unserer Unterkunft.
Es ist, wie es ist. Wir sind ja quasi erst auf der Insel eingetroffen, dennoch ist es bereits angezeigt, die nächste Krisensitzung einzuberufen. Die Fakten sind schnell und klar umrissen, es gibt per annum  zwei diametral entgegengesetzte Wirkpole auf diesem Eiland, der julianisch verzerrte Osterwahn und wir. Beides rast mit unbeherrschbarer Energie aufeinander zu und könnte, wenn man es jetzt  ganz düster prognostizieren würde, in eines dieser nostradamischen Weltuntergangsszenarien münden, die bisher zwar nie eingetreten sind, aber, man weiss ja nie …
Die 16 Dosen Bier von der Tankstelle sind längst unsere Kehlen hinabgeperlt, da steht der Entschluss fest: Flucht. Man darf dies allerdings keinesfalls als Eingeständnis der Niederlage interpretieren, sondern als rein vernunftbedingte taktische Massnahme, um dann ggfs. heimtückisch zurückzuschlagen, oder auch nicht.
Wir müssen in Klamotten eingeschlafen sein. Meine Zunge ist etwas pelzig. Nana schnarcht. Ich bewege mich schwerfällig in Richtung Toilette. Der Morgen graut. Im Hintergrund ist etwas Blasmusik zu hören. Mir ist etwas flau.
Dennoch, ich halte mich akribisch an unseren Plan. Ich wecke Nana. Sie verflucht mich. Das war zwar nicht der Plan, aber ist durchaus plausibel. Nachdem wir uns wieder einigermassen in einen  brauchbaren Betriebszustand versetzt haben, verlassen wir das Haus, zwei schemenhafte Gestalten in geduckter Haltung die Hauswand entlang, Keramikreste knirschen unter den eiligen Schritten. Nach einigen hundert Metern erreichen wir die Strasse, die von einer niedrigen Mauer vom Meer getrennt wird. Alles ist ruhig. Auf dem Mäuerchen steckt jemand mit dem Kopf im Schalltrichter einer Tuba. Zwei Körper, die achtlos zurückgelassen scheinen, bewegungslos ineinander verschlungen, wie versteinert. Oder tot? Ein bizarres Ensemble.
Das Meer gurgelt schelmenhaft um das steinige Ufer. Wir beschleunigen nochmals unseren Gang. Unser rumänisch – französischer Kleinwagen steht glanzlos im fahlen Licht der Dämmerung. Er springt sofort an. Herr, wir danken dir!
Kurz nach der Ortsgrenze halten wir an einer Tankstelle. Der Kaffee ist lausig, die Stimmung ist aufgekratzt. Die Insel scheint noch zu schlafen. Wir hoffen, dass das zumindest auf Blasorchester zutrifft, die hier offenbar in exorbitanter Menge beheimatet sind. Wir wissen es nicht. Wir wollen es nicht wissen –  toi toi toi! Es bestätigt sich der Eindruck vom Vortag, sobald man das osterwahnsinnige Korfu – Stadt verlässt, verwandelt sich die Umgebung gern mal in eine mediteranes Kleinod. Wir fahren nördlich ins Gebirge. Es geht teilweise steil nach oben durch sattes Grün. Wie schon die Tage zuvor, es könnte wärmer sein, aber es ist noch früh am Tag und das Wetter ist halt launisch. Wir halten immer wieder an, um die Landschaft zu würdigen. Nana fotografiert, was sonst. Ich hänge allerlei Gedanken nach. Mir wird klar, dass der verzwirbelte Anflug der Musical – Airline beileibe kein Mysterium ist, sondern dem Gebirge geschuldet, das hier bis zu 1000 Meter hoch nördlich des Flughafens liegt. Die Frage wäre, ob Slatko, der Himmelhund, es trotzdem probiert hätte, im Sturzflug, oder vielleicht links davon im Tiefflug durch die Meerenge zwischen Albanien im Kugelhagel der Partisanen … –  gut, da geht jetzt was mit mir durch, fürchte ich. Hat eigentlich mal jemand die Spätfolgen von Blasmusik untersucht?
Wir finden eine Art Ausflugslokal an diesem zeitversetzten Ostersonntag, und wie sollte es anders sein, alles ist reserviert, obwohl noch kein Mensch da sitzt. Die Wirtsleute sind allerdings so nett, uns noch irgendwo dazwischen einen Katzentisch aufzustellen. Und ähnlich wie am Vortag, das Essen ist gut und nicht teuer. Im Kamin knistern behaglich die Holzscheite, befeuern ein trügerisches Hochgefühl. Nana sieht ein weiteres mal ganz bezaubernd aus. Ja, Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander, ja, und jetzt denke ich, ist der Moment gekommen, jetzt, wann sonst sollte ich ihr einen Heiratsantrrr … – im Augenwinkel sehe ich eine Tuba am Fenster vorbeiziehen. Die Stimme versagt, kalter Schweiss bricht aus, Schnappatmung und Schüttelfrost folgen auf den Fuss …
Wir beginnen spontan eine mehrstündige Gebirgswanderung auf dramatisch unzureichendem Ausrüstungsniveau. Ich erinnere mich dunkel an den durchdringenden Ruf des Waldkauzes, ansonsten weiss ich bis heute nicht, wie wir des nachts zu unserer Heimstatt zurückfanden.

Schnitt! Es ist Ostermontag im Zeitalter der lärmenden Julianer, wir wachen im Laufe des Vormittags auf. Alles ist ruhig. Die Blasen an meinen Füssen senden undeutliche Signale an mein vegetatives Nervensystem. Auf meinen Handrücken deuten blutige Kratzspuren auf erbitterte Wegerechts –  Kämpfe mit einheimischer Dornvegetation hin. Nana ist etwas zerzaust, was ihr, wie ich finde, ausgezeichnet steht.
Unser favorisiertes Kaffeehaus wirkt unbeeindruckt von jeglichem Furor und bietet uns den erforderlichen Rückhalt in Form von koffeinhaltigen Heissgetränken. Um uns herum wirkt alles weniger hektisch als gestern, fast schon ermattet. Die überschaubare Anzahl der Gäste unterhält sich in gedämpfter Lautstärke. Ich bemerke, dass keinerlei Orchestergeräusche zu vernehmen sind, weder in der näheren Umgebung, noch in der Ferne. Sollte der christliche Eiertanz ein Ende gefunden haben? Ein Rest Misstrauen ist geblieben, dennoch, die Entspannung in der Atmosphäre ist seltsam greifbar. Ein paar Sperlinge erbeuten die Krümel eines Croissant unter dem Tisch. Verspielt tauche ich meine Nase in das Sahnehäubchen des Cappuccino. Ein offensichtlich religiöser Würdenträger (Ortho – Cap, bodenlanger Talar) mit grauem Rauschebart kommt die Gasse entlang. Die Leute grüssen erfreut, der Priester zurück, Hände werden geschüttelt, nebenbei, sozusagen aus der Hüfte, segnet er noch das ein oder andere Anwesen, auch das Cafe inklusive der Gäste. Souverän irgendwie. Ich gebe es nicht gern zu, aber mich beruhigt das irgendwie, ich gerate fast in eine besinnliche Stimmung. Nana schaut auch etwas verklärt aus der Wäsche.
Gedanken an die letzten Tage ziehen durch meinen Kopf. Ist es schon Zeit ein Fazit zu ziehen? Muss überhaupt ein Fazit gezogen werden? Für Übermorgen ist die Weiterfahrt sowieso geplant.
Dakammerschommahinfahrn, beschied ich erst kürzlich. Tzz tzz tzz, na ja, sagen wir mal so, ist schon irgendwie in Ordnung, aber besser keine Heiratsanträge, ab Mai vielleicht …
Nana hat einen Plan. Das merke ich sofort. Sie bearbeitet ihr Smartphone und schaut zwischendurch verschwörerisch zu mir herüber. Erfahrungsgemäss kann jetzt alles passieren zwischen Kreuzigung und Auferstehung. Einen Moment noch, demnächst wird sie damit herausrücken. Meistens beginnt der Satz dann mit „Liebling“. Das soll so eine positive Grundstimmung für meine Bewertung generieren. Tut es auch, da bin ich doch immernoch „verliebter Trottel“.
Tattaaa, die Fanfare erklingt, es ist soweit: „Liebling, was hälst du davon, wenn wir schon morgen auf´s Festland übersetzen?“
Eigentlich ist das konzeptionell nicht als Frage vorgesehen, aber so klingt es halt mehr nach Demokratie. Es folgen eine Reihe von Erläuterungen, es sei da etwas wärmer und würde nicht regnen, wir hätten ja eh schon alles hier gesehen, sie könnte den Bus ganz easy reservieren und auch das Appartment in Elefsina, und und und ... Ich tue kurz so, als würde ich nachdenken, dann stimme ich zu. Wir rufen gleich das Taxi an, das uns in aller Frühe zum Fährhafen bringen soll. Warum noch lange rummachen, Nägel mit Köpfen!
Eigentlich läuft ab jetzt alles geschmeidig, wenn man mal von meinem Laufstil (die Blasen, verdammt!) absieht. Wir nehmen Abschied von Kerkyra. Das Restaurant des Abends ist eine Pizzeria, der Betreiber ein Asiate, die Katzen griechisch. Die Weingläser funkeln purpurn im Kerzenlicht und ich könnte einen neuen Versuch starten, ploppt es kurz in mir auf. Ach nein, nicht ungeduldig werden, es muss schon alles passen.
Am nächsten Morgen, es ist nach meinem Verständnis noch tiefste Nacht, beginnt das gewohnte  Abfahrtsprozedere. Also, hauptsächlich das von Nana. Bei mir geht das in der Regel bedeutend zügiger, das Ergebnis ist natürlich entsprechend: ausreichend. So wie damals in der Schule. Man könnte auch sagen, mental wie physisch leicht zerknittert. Mehr muss nicht!
Wir haben noch reichlich Zeit bis zur avisierten Ankunft des Chauffeurs, also packen wir unsere sieben Sachen, lassen die Tür ins Schloss fallen und gehen ins Cafe. Bye bye, Kerkyra …
Eigentlich sollte das Kapitel hier enden, eigentlich. Aber wer legt denn wirklich fest, wo etwas anfängt, wo etwas aufhört, warum wir sind, woher wir kamen, wohin wir gehen. Ja, ich gebe zu, es gab die Versuchung, hier ein längeres philosophisches Kapitel einzupflegen, eine tiefschürfende Abhandlung über Sinn und Unsinn unseres Daseins, ja sogar Gott anzurufen, oder Allah, Jehova, oder vielleicht gar Manitou, nur um endlich eine Antwort zu finden, zu ergründen, warum dies alles? Und warum geht das alles immer so weiter?
Wir sind die ersten Gäste, zusammen mit drei städtischen Müllmännern. Die Espressos kommen flugs und heiss. Wir verabschieden uns vom Kellner in lustigem Englisch, ja, wir sind dem Leben milde und zuversichtlich zugewandt.
Doch dann aus dem Nichts, Nana wird aschfahl. Es ist ein Gesichtsausdruck, den ich so gut kenne, wie verabscheue. Er macht mir Angst. Es ist dieser Ausdruck des blutüberströmten, gehetzten Wildtieres, des Todesengels vom Stern der ewigen Verdammnis, und der bösen Schwiegermutter, alles in einem. Mit eisiger Stimme, und knapp fünf Oktaven tiefer, stellt sie die Schicksalsfrage: „Wo ist eigentlich das Akku – Ladegerät von meiner Kamera?“
Ein Eiszapfen bohrt sich in mein Herz. Ich erstarre zur Salzsäule mit Tasse in der Hand (bereits das 2. mal auf dieser Reise und immer im selben Cafe).
Nun wird der ein oder andere zu Bedenken geben, ein Akku – Ladegerät kann doch kein Drama sein, da kauft man einfach ein Neues. Weit gefehlt. Das fällt nämlich in den Spezial – Bereich des Spezial – Zubehörs für Spezial – High – Tech – Geräte und ist erstens nicht an jeder Ecke erhältlich und liegt  zweitens in den Anschaffungskosten knapp unterhalb einer Einbauküche.
Lange Rede, kurzer Sinn, das Ladeteil mit Reserveakku hängt sozusagen dienstbereit an der Steckdose in der verlassenen Wohnung, der Schlüssel leider auch, was folglich bedeutet, die Kamera wäre zu baldiger Untätigkeit verdammt – sozusagen das sterbende Auge der Sehenden! – was Nana den Anwesenden nun in inbrünstigem Funny – English begreiflich zu machen sucht.
Jetzt kommt aber Leben in die Bude, ein Leben, dem so manch sensibles Gemüt zur frühen Stunde eher nicht gewachsen ist, konstatiere ich selbstvergessen, und verharre zunächst weiter in meiner Apathie – Schutzhaltung. Es gibt zudem  Überlegungen dahingehend, dass möglicherweise der Bestand meiner Blutdruckmedikamente für diese Exkursion ein wenig zu gering dimensioniert sein könnte. Die Frage bleibt offen. Dann bewegt mich noch die Ungewissheit, ob die Fähre zum Festland jemals ihr Ziel erreichen wird, oder ob eventuell dieses kleine Missgeschick als Wink der Götter zu verstehen ist, der uns vor einem jähen Ende in den eisigen Tiefen des Ionischen Meeres bewahren soll. Ich höre Celin Dion bereits im Hintergrund anschwellen.
Es kommen allmählich immer mehr Leute zusammen, aus angrenzenden Geschäften, Wohnungen, oder einfach nur Passanten. Es werden Ideen entwickelt, Vorschläge gemacht, telefoniert, Kaffee getrunken und gesungen, nur, am Ergebnis ändert sich rein garnichts. Zu guter Letzt steht auch unser Taxifahrer mit im Pulk und meint, wir sollten langsam mal hin machen. Machen wir dann auch.
Erstaunlich ist, wie Nana von hier auf jetzt wieder auf fröhlichen Alltagsmodus schaltet. Ach, alles halb so wild, in Athen da liesse sich hundert pro was arrangieren, gibt sie zum Besten. Sie lächelt  zuversichtlich. Ich dagegen werde vom Taxifahrer etwas gestützt, als wir zum Auto gehen.
Wir erreichen die Fähre kurz vor dem Auslaufen. Wie ich bemerke, reist auch das ein oder andere Blasorchester mit. Sie sehen müde aus, die Musikanten. Und vor allem, sie bleiben geräuschlos, was mein angeschlagenes Nervenkostüm voll Dankbarkeit mit ein paar Tränen goutiert.
Die Fähre fährt los, der Aufenthaltsraum ist rappelvoll. Ich bestelle ein Getränk am Kiosk. Es soll vermutlich Cappuccino sein. Wer weiss das schon. Nana hält meine Hand und schickt mir ein paar besorgte Blicke zu. Ich signalisiere mimisch Übersicht und Entschlossenheit nur durch das geschickte Spiel meiner Mundwinkel. Das kenne ich aus älteren amerikanischen Spielfilmen. Sie wirkt verständnisvoll amüsiert.
Dann verlasse ich den Raum festen Schrittes und suche aussen den höchsten Punkt des Schiffes auf, der für Passagiere erreichbar ist. Der Wind weht mir eine graue Strähne ins Gesicht. Der Diesel zieht entschlossen stampfend seine Furche durch die unergründliche See. Mein verwegener Blick geht gen Horizont, Süd – Südost, Igoumenitsa. Ich rücke meinen Schal zurecht und ziehe den Rettungsring hoch, den ich kurz vorher aufgeblasen habe. Da ist leider vorne ein Entenkopf drauf, hinten so eine Art Bürzel. War halt im Angebot. Egal.
Einige Menschen gehen vorbei und raunen verwundert, die Kinder lachen. Niemand soll sagen können, ich wäre nicht vorbereitet gewesen.
Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 3 – Road Movie

Igoumenitsa – ja, was soll ich da sagen? Da fährt die Fähre hin. Also, pfff, es ist schwer diesen Ort zu beschreiben. Wenn man ankommt, möchte man eigentlich noch schneller wieder weg. Vielleicht könnte man sagen, das Bielefeld Nordgriechenlands, aber das würde möglicherweise Bielefeld diskreditieren. Nein, ich muss hier eines ganz deutlich klar stellen, ich bin ein grosser Freund von Hafenstädten am Mittelmeer, aber irgendwo ist es auch mal gut. Ach, ich fang´ noch mal von Vorne an: Igoumenitsa – ja, herrgottsakra …
Die Überfahrt war weitestgehend ereignislos, bis auf den kleinen Zwischenfall, dass mich ein Matrose mehr oder weniger nachdrücklich bat, wieder vom Mast herunter zu steigen und die Luft aus meinem Rettungsring liess. Sensibel geht anders!
Nach einer guten Stunde erreicht die Fähre das griechische Festland unweit der albanischen Grenze. Aus dem Bauch des Schiffes quillt eine farbenfrohe Blech – und Passagierlawine und ergiesst sich über die Perle des Ionischen Meeres – Igoumenitsa (Ja, jetzt hab´ ich´s). Wir lassen uns im Pulk der Seereisenden an Land spülen. Es funktioniert immer ähnlich in diesen Häfen, man folgt der Herde zu irgendeinem Ausgang, ab da zerstreut sich der Haufen langsam und man muss sich allein orientieren. Unser Ziel ist vorgegeben, der Busbahnhof, und der liegt nach elektronischer Wegbeschreibung um die Ecke. An der Uferstrasse (ich vermeide absichtlich den Begriff Promenade) liegen ein paar Schnellrestaurants, dazwischen Bürogebäude, Lagerhallen oder Brachland. Es gibt hie und da bescheidene Zeugnisse einer freundlicheren Gestaltung des öffentlichen  Raumes (Blumenkübel, Palmen, befestigte Gehwege), aber die ersticken quasi in der allumfassenden Hässlichkeit ihrer Umgebung. Es ist Vormittag, die Sonne scheint, Container auf Lkws donnern an uns vorbei, eine tote Möwe liegt am rostigen Zaun des Hafengeländes. Man sollte Warnschilder für Melancholiker aufstellen. Eine Ratte zeigt mir den Vogel. Wir erreichen den Busbahnhof, oder besser gesagt die Haltestelle, in wenigen Minuten. Es gibt eine kleine Wartehalle mit Schalter und Toilette. Davor parkt ein Reisebus mit vertraueneinflössendem dreizackigen Stern auf dem Grill. Vertrauen ist wichtig, denn wir werden den grössten Teil des Tages mit/in dieser Blechbüchse verbringen. Wir bestätigen unsere Reservierung am Schalter und treten wieder hinaus in die Sonne.
Ja, denke ich, lach´ du nur, du gelbes Ding da oben. Was sollst du auch sonst tun, ausser deine verlogene Wärme über die staubige Trostlosigkeit dieses Vormittags zu giessen, während ich hier mit der wunderbarsten Frau der Welt am verlorensten Ende Griechenlands stehe, wo selbst ein erschöpfter Schiffbrüchiger sich wieder zurück ins mehr wünscht. Ich muss ein verdammt glücklicher Mann sein ...
Nana gibt mir einen Stoss in die Seite.
„Alles okay bei dir?“ –
„Aber ja, mein Stern, was soll schon sein …“ –
„Es ist noch Zeit, wir sollten uns jetzt Proviant organisieren, wer weiss, ob das unterwegs noch möglich ist.“ –
Wo sie recht hat, hat sie recht. Mein melancholischer Anflug ist damit für beendet erklärt.
Zwei Strassenecken weiter entdecken wir in einer Lagerhalle einen Supermarkt in der eher rustkialen Aufmachung eines Discounters. Das Sortiment hat stark asiatischen Einfluss, aber wir finden letztendlich alles, was wir uns vorstellen: Getränke, Obst, Knabbergebäck, Schokoriegel. Danach suchen wir eines der Schnellrestaurants auf und essen Pommes.
Am Bus ist bereits ein kleiner Auflauf. Die Gepäckfächer stehen auf, es wird geladen. Der gutgebaute Mann, der sich um die Beladung kümmert, hat uns den Rücken zugewandt und schiebt Gepäck in das Innere der Blechröhre. Ich vernehme ein leises Schnauben und einen feinen Windhauch im Bereich meines Nackens. Nana! Sie steht etwas versetzt hinter mir, die Nasenflügel leicht nach oben gezogen. Der Mann, Anfang vierzig, pefekt sitzendes weisses Hemd, Goldkettchen, schwarzes, leicht gegeltes Haar, dreht sich zu uns, beziehungsweise eher zu Nana und lächelt in etwa so, wie Kerle es tun, die wissen, dass ab jetzt kaum mehr Worte nötig sein werden.
Ein angestecktes Namensschild weist ihn als Busfahrer aus, sein Lächeln als den ultimativen greek – style Lover. Zumindest geht er davon aus. Noch bevor ich ihm unser Gepäck übergeben kann, schiebt sich eine Gruppe junger kanadischer Backpackerinnen zwischen uns und den Schönling, aufgeregt schnatternd, und, wie ich bemerke, mit den obligatorischen leicht flatternden Nasenflügeln. Ich spüre Nanas Fingernägel in meinem Unterarm. Das kann ja heiter werden. Und damit nicht genug, zwei Ordensschwestern in vollem Ornat zeigen ähnliche Symptome. Normalerweise müsste ich jetzt vom Glauben abfallen, aber, wie schon mehrfach erwähnt, das hat sich bei mir bereits anderweitig erledigt.
Stattdessen mache ich mir überwiegend weltliche Gedanken. Die Busfahrt nach Athen ist mit rund 6,5 Stunden angesetzt. Das erscheint mir angesichts fernverkehr – immanenter Unwägbarkeiten plus des neu aufgekommenen Hysteriepotentials im Passagierbereich als sehr ambitioniert. Aber haben wir eine Alternative? Umbuchen auf die Bahn, Mietwagen, Privatjet? Nein, es steht ja ausser Frage, da müssen wir jetzt durch. Ich rede mir ein, dass auch Weiberhelden Busse fahren können. Gib ihm eine faire Chance, auch wenn es schwer fällt. Immerhin hat er eine Anstellung bekommen. Ob der Führerschein gefälscht ist, mmh, – die Zweifel bleiben.
Während ich gerade noch Überlegungen anstelle, ob der Soundtrack zu dieser Fahrt eher nach  „Highway To Hell“, oder „Magic Bus“ klingt, hat Nana das Gepäck abgegeben und zerrt mich in den Bus. Es ist freie Platzwahl. Mich überrascht es nicht, dass auf den Sitzen in unmittelbarer Nähe des Fahrerplatzes die nordamerikanische Sprache dominiert, nur leicht unterbrochen von der stillen Anwesenheit der Ordensfrauen. Wir ziehen uns in den hinteren Teil zurück. Hier sitzen gottseidank auch noch ganz normale Leute. Nana scheint sich von ihrem teenagerhaften Ausreisser wieder auf Normaltemperatur runtergekühlt zu haben. Dann kann ja nichts mehr schief gehen.
Der Kapitän der Landstrasse betritt sein Gefährt. Elegant schwingt er sich auf den Fahrersitz und schiebt die Sonnenbrille in den Haaransatz. Es folgen ein paar lässig formulierte Begrüssungsworte in griechisch und englisch durch die vor Erregung heisere Sprechanlage, was den Jauchzpegel in den vorderen Reihen dramatisch anschwellen lässt. Respekt! Ich muss gestehen, dass mir die Show imponiert. In jüngeren Jahren hätte mich da sogar ein gewisser Neid ergriffen, endeten doch ähnlich angelegte Auftritte meinerseits regelmässig mit dem Verlust jeglicher Reputation in der Damenwelt. Heutzutage regiert da glücklicherweise weltmännische Gelassenheit und die Erkenntnis, dass glücklicherweise nicht jedem Mann so ein Skilehrer – Gen in die Wiege gelegt wurde. Nein, nicht jeder Mann kann ein Womanizer sein, verdammte Hacke, wo kämen wir da hin!? Nein, ich rege mich nicht auf, ich NICHT! Vielmehr beschliesse ich nochmals in aller Gelassenheit, mich nicht aufzuregen, und ihn ab sofort und immerwährend Hansi zu nennen, abgeleitet von Hansi Hinterseer, dem einzigen Skilehrer, der mir gerade in den Sinn gekommen ist.
Mit dem anwerfen des Daimler – Aggregats normalisiert sich allmählich die flirrende Atmosphäre entfesselter Hormone und es beginnt ein neues Kapitel unserer Reise durch die wunderbare Welt der  Mysterien, sozusagen ein Road – Movie, das, wie genre – üblich, weitestgehend aus langen Mittelteilen bestehen dürfte. Ich muss reflexartig gähnen.
Wir verlassen die Küste und durchqueren auf Landstrassen eine karge Mittelgebirgsszenerie, die zunehmend langweiliger wird und ich entsprechend müder. Zunächst verfolge ich noch die Landschaft. Dann zähle ich Ziegen. Nach kurzer Fahrt bereits der erste Halt im Nirgendwo. Jemand steigt zu. Meine Skepsis gegenüber der offiziell angegebenen Fahrzeit findet neue Nahrung. Ich beschliesse, den nächsten Halt gar nicht mehr mitkriegen zu wollen und nehme eine für Dämmerschlaf geeignete Kauerstellung ein, zunächst mit mässigem Erfolg, doch irgendwann dämmerts immer. Ich zähle Ziegen.
Die Maschine surrt gleichmässig. Meine Sinne kehren langsam wieder. Keine Ahnung, wie lange ich so verharrt habe. Ich blinzle aus dem Fenster und dann zu Nana. Sie konzentriert sich auf ein Buch. Ich blinzle wieder zurück aus dem Fenster, strahlendblauer Nachmittagshimmel, ein Wetter zum Helden zeugen, wie der Volksmund zu sagen pflegt. Zeugen, ja, aber nicht jetzt und nicht hier, und Helden schon mal gar nicht, das ist eher Götterangelegenheit. Dummes Zeug.
Der Bus verlangsamt die Fahrt. Offenbar biegt er von der Autobahn ab. Wir durchqueren eine Tankstelle und landen auf einem grossen Raststättenparkplatz. Hansi gibt bekannt, dass jetzt eine halbe Stunde Pause ist, man solle pünktlich zurück sein. Das Fahrzeug leert sich. Wir schleichen in den gastronomischen Teil der Anlage. Es sieht alles ungefähr so trostlos aus, wie auf einem bundesdeutschen Rasthof, nur dass das Wetter besser ist und irgendwo in der Ferne das Mittelmeer schimmert. Nach dem Besuch des Sanitärbereichs gönnen uns ein paar koffeinhaltige Heissgetränke und lungern etwas herum. Wie gesagt, der berüchtigte lange Mittelteil gibt nicht viel her. Selbst philosophische Betrachtungen hängen angesichts der Trägheit, die den gesamten Körper befallen hat, wie eine Schallplatte mit Sprung. Jedenfalls bei mir. Nana wirkt da lebhafter, aber das ist sie ja sowieso. Gottseidank.
Dann geht es weiter. Nach kurzer Fahrt überqueren wir den Golf von Korinth an seiner engsten Stelle    auf einer imposanten neuen Brücke. Rechter Hand liegt Patras, eine der grösseren Städte Griechenlands, im gleissenden Licht der Nachmittagssonne. Natürlich gibt es auch hier den obligatorischen Stopp zum Ein – und Aussteigen (so kommen wir doch nie an!). Danach wird endlich wieder ein grösseres Stück durchgefahren. Die Strecke verläuft entlang der Küste Richtung Korinth. In der Nähe von besagtem Ort, direkt am östlichen Eingang des berühmten Kanals, der den Golf von Korinth mit dem Saronischen Golf verbindet, ist dann der nächste Halt. Ich dachte früher immer, der sogenannte Isthmus von Korinth wäre der Kanal selbst. Stimmt aber nicht, mit Isthmus bezeichnet man die Landenge, die er durchschneidet. Soviel Zeit muss sein, Herr Oberstudienrat.
Es sieht genauso aus, wie vor einigen Jahren, ich erkenne die Örtlichkeit wieder, hatte ich doch damals zu einem flüchtigen Besuch hier aufgeschlagen und das historische Bauwerk bereits in Augenschein genommen: schnurgerade, steile Wände. Da muss ein alter Mann mit Spaten lange für graben, hatte ich schon damals gedacht. Ansonsten fahren da den ganzen Tag Schiffe durch, aber kein sehr grossen. Früher zur Bauzeit (1881 – 1892) waren die Schiffe halt etwas kompakter. Beeindruckt hat mich bei meinem damaligen Aufenthalt auch noch eine Strassenbrücke über die Einfahrt, die bei Schiffsverkehr nicht hochgeklappt, sondern versenkt wird. Keine Ahnung, was da der Vorteil ist. Es ist mir ein Mysterium geblieben.
Und bevor ich anfange, darüber lange zu sinnieren, lässt Hansi die Maschine aufheulen. Er will offenbar Zeit gut machen. Wir fädeln rasant wieder auf der Autobahn ein. Es geht flott voran. Nach meinem Routenplaner sind wir auf dem letzten Abschnitt der Reise. Nach etwa 40 Kilometern allerdings bremst Hansi wieder ab und fährt rechts ran. Ein Fahrgast verlässt mit ihm den Bus. Nach ein paar Minuten taucht Hansi wieder alleine auf und es geht zackig weiter. Dieser Vorgang wiederholt sich alsbald nochmals. Das weckt zunächst meine Skepsis, dann mein ganz spezielles Interesse, erspähe ich doch auf einem der Autobahnschilder den Namen unseres Zielortes Elefsina (in der Antike als Eleusis bekannt) in absehbarer Entfernung annonciert. Nach kurzer Rücksprache mit Nana, erklärt sich diese bereit, den Lippenstift aufzufrischen, nach vorne zu gehen und mit dem Don Juan der Fernstrassen über einen ausserordentlichen Zwischenstopp an der uns genehmen Ausfahrt Elefsina zu verhandeln. Wie ich an den Armbewegungen ablese, wird die Verhandlung kurz und energisch geführt. Nana kehrt zu schnell zurück. Ihr Gesicht verrät Enttäuschung (wenn man mal von den flatternden Nasenflügeln absieht). Der Sachverhalt ist relativ simpel erklärt: es ginge prinzipiell schon, aber nicht bei uns, da das Gepäck auf der linken Seite des Busses verstaut ist. Wenn Gepäck rechts, dann rechts ran, alle Mann rechts raus und recht viel Spass in Elefsina. Links sei zu gefährlich. Was sich hier anhört wie ein satirischer Kommentar zur politischen Grosswetterlage in Sachsen – Anhalt, bedeutet für uns ganz banal: Pech gehabt. So einfach ist das manchmal, im Gegensatz zur Grosswetterlage. Aber gut, woher soll man es wissen.
Es dauert nicht lange und wir passieren die Ausfahrt Elefsina in flottem Tempo. Allerdings stellt sich bei mir die Frage, ob ich denn wirklich hier aussteigen gewollt hätte. Das Szenario, das an uns vorbeifliegt, gibt doch mehr Anlass, das Gaspedal bis zum Bodenblech durchzudrücken, um diesem erbarmungslosen Gegenentwurf feinsinniger antiker Mystik zu entkommen, der sich in ungeheurer Brachialität über die geweihte Landschaft ergiesst. Oh Zeus, oh Apoll, von Demeter möchte ich gar nicht erst anfangen, wohin habt ihr mich geführt, bin ich gar Odysseus, der Umherirrende, oder wie, oder was …
Doch die Götter schweigen. Nur der Chor der Industrieästheten setzt zum Jubel an. Ich kann die Bauten natürlich nicht zweifelsfrei zuordnen, doch meine ich ein Übergewicht aus dem Bereich der petrochemischen Industrie zu erkennen, vielleicht ist es aber nur ein Weltraumbahnhof oder der Eingang zum Hades.
Nach nicht endend wollender Fahrt entlang der stählernen Mahnmale des allgegenwärtigen  Industriekultes erreichen wir die Stadtgrenze von Bochum, pardon, ich meine natürlich Gelsenkir – …, oh Mann, Mist, AAAAATHEN natürlich, die grossartige Hauptstadt der Helenen, die uns mit einen bunten Strom an quirligen Kraftfahrzeugen zu begrüssen scheint, der uns als Feierabendverkehr freudig entgegen perlt. So schwimmen wir eine Weile mit ihnen über die zahllosen Spuren der Aus – und Einfallstrassen, durch dieses chaotisch anmutendes Lichtermeer, das die Ablösung des verbrauchten Tages illuminiert, ob der will, oder nicht. Wir jedenfalls, wir wollen jetzt auch nicht mehr, wir wollen raus aus der Dose.
Der Bus biegt abrupt nach rechts in einen riesigen dunkelgrauen Kasten ab, eine Kreation aus Stahlbeton und Wellblech, dem Busterminal. Während ein schnödes Verkehrsmittel da rein darf, musste offenbar jedweder architektonische Schöngeist draussen bleiben. Eine griechische Spezialität, wie mir heute schon des öfteren aufgefallen ist. Der Fahrer steuert auf eine Parkbucht zu, die offenbar für unsere Linie vorgesehen ist, die aber von einem Kleintransporter blockiert wird, der da frech und mittig abgestellt ist. Einen Moment denke ich, Hansi, du wirst doch wohl nicht … – doch, er wird! Wie der monströse Schlussakkord einer lange vor sich hinplätschernden Sinfonie in Pianissimo, das Grande Finale Furioso: Hansi betätigt das Horn!
Outdoor ist sowas schon nicht schlecht, aber Indoor, meine Güte! Ich glaube, das Dach hebt sich kurzzeitig um einige Zentimeter, während Rostbrösel und tote Fledermäuse zur Erde regnen. Ich weiss zwar nicht, welche Götter der griechischen Mythologie da zuständig sind, aber sie werden ob dieser Huldigung hoch zufrieden sein. Hansi sammelt zweifellos spirituelle Pluspunkte. Oder er hat einen Werbevertrag mit dem lokalen Hörgerätehandel. Es dauert noch ein paar Minuten, dann schlurft eine etwas ungepflegte Erscheinung aus der Cafeteria zu der falschparkenden Rostlaube, nicht ohne unseren Chauffeur mit einigen Flüchen einzudecken, welche dieser gerne und inbrünstig zurück gibt. Dann tuckert der Transporter stinkend davon und Hansi beendet offiziell seine Performance mit dem Einparken und Ausladen des Gepäcks. Ob und mit wem er dann den Feierabend einläutet, ist offiziell nicht überliefert, vermutlich fährt er einfach nach Hause zu seiner Frau und den drei Kindern. Ehrlich gesagt, mir ist das sowas von egal, ich würde jetzt erstmal gerne den Endspurt anziehen, um dann final mit Nana in irgendeiner Taverne den Tag ausklingen zu lassen.
Der Abend hat bereits Einzug gehalten. Wir waren über sieben Stunden (ohne Fähre gerechnet) unterwegs. Vor der Halle ist ziemlich Betrieb. Viele Reisende werden abgeholt, andere nehmen sich Taxis oder warten auf Stadtbusse. Wir haben eine Adresse auf einem Zettel und eine Info, was es mit dem Taxi ungefähr kosten darf nach Elefsina. Das funktioniert dann auch unerwartet reibungslos. Der erste Fahrer den wir anhauen, macht den Deal für 30 €. Glücklicherweise müssen wir nicht durch ganz Athen, sondern fahren da, wo wir gerade hergekommen sind, wieder raus auf die Schnellstrasse und sind in einer guten halben Stunde in Elefsina.
Wir verlassen die Autobahn. Es ist schwer eine sachliche Einschätzung abzugeben, wenn man bei Dunkelheit einen bislang völlig  unbekannten Ort erreicht, aber das, was man an Umgebung erkennen kann, würde ich mit dem schönen deutschen Begriff Gewerbegebiet charakterisieren wollen, oder sagen wir mal Industrie – Gewerbe – Mischgebiet. Mir fallen dazu noch Worte wie Autobahnkreuz, Umspannwerk und Containerbahnhof ein, aber keinesfalls Formulierungen die auf Urlaub, Ferien, Erholung oder Kultur hinweisen. Zumal die Eindrücke der spätnachmittäglichen Passage auf der Autobahn nichts Gutes erahnen lassen.
Es ist auf jeden Fall ausserhalb von was auch immer, ein Randgebiet an einer Ausfallstrasse, die Bebauung wird jedenfalls dünner. Wir halten vor einem Krankenhaus, gegenüber zwei, drei Cafeterien im Feierabendmodus, dazwischen geht eine Seitenstrasse ab. Ein Mann in T – Shirt, so um die Dreissig, winkt. Das muss der Vermieter unseres Appartements sein, wir hatten kurz vorher angerufen. So ist es dann auch. Es geht zu Fuss noch 200 Meter bei spärlicher Beleuchtung ins Nirgendwo, dann stehen wir vor einem eingeschossigen Häuschen mit Ziegeldach und weinbewachsener Pergola davor. Der Vermieter verständigt sich wieder in bewährtem Funny – English. Die Wohnung ist geräumig, 2 Zimmer, Küche, Bad, wobei das Wohnzimmer direkt in die Küche übergeht, getrennt durch einen Tresen. Die Einrichtung besteht nur aus dem Nötigsten. Damit können wir gut leben, besser als hätte sich hier jemand an geschmackloser Innenausstattung versucht. Wir fragen noch nach einer Verbindung in den Ort. Er meint, es fahren Busse oder Taxis. Bei der Frage nach den Bustarifen schaut er uns verständnislos an und antwortet trocken: „Nobody pay for bus“. Ein durchaus kundenfreundliches ÖPNV – Konzept, wie ich finde, gelebte Basisdemokratie an der Wiege der Demokratie. Beispielhaft!
Wir entscheiden uns dennoch heute abend für die Kraftdroschke. Nach eher ermüdender Busreise gilt es, keine Zeit zu verlieren und endlich die lokale Gastronomie einer ersten Probe zu unterziehen. Die Fahrt ins Zentrum von Elefsina dauert keine zehn Minuten und kostet sechs Euro. Ich ahne, das wird unser favorisiertes Fortbewegungsmittel bleiben.
Laut Recherche im Smartphone lassen wir uns an die zentralste aller zentralen Kreuzungen bringen.  Davon gibt es wirklich nicht viele. Ein paar Schritte weiter durch eine Nebenstrasse erreichen wir einen kleinen quadratischen Platz, der überwiegend im Bau befindlich scheint. Da wurde die städtische Planung offenbar vom Speed der europäischen Kulturhauptstadt überholt. Sieht bestimmt mal ganz nett aus, wenn alles fertig ist. Von dem Platz geht eine Art Fussgängerzone am massiven  Gitterzaun des Mysteriums entlang. Hier befinden sich auch jede Menge Lokale. Die meisten haben allerdings zu. Das ist nachvollziehbar angesichts des überschaubaren Publikums, dass hier noch flaniert. Es klingt vielleicht etwas vorschnell geurteilt, aber wenn hier einer nicht zu steppen scheint, dann ist es der Bär. Wir entscheiden uns schnell für eine Gaststätte, die den Anschein macht, noch länger geöffnet zu haben und wo tatsächlich noch einige Gäste auf der Terasse verweilen. Der Name „Italiko“ lässt auf eine griechische Adaption italienischer Kochkunst schliessen. Positives Denken für Unerschrockene ist angesagt: lassen wir das kulinarische Abenteuer zu? Ja, aber selbstverständlich. Die feilgebotenen Speisen klingen vertraut in unseren Ohren, allein der Gaumen muss sich gegebenenfalls etwas eintunen, und der Wein – bitte, einer muss es ja rausreissen! Oder zwei.
Es ist ein schöner Abend am Zaun einer der bedeutensten Kultstätten der griechischen Antike. Durch die Gitterstäbe wabert der Hauch der Geschichte über die Spaghetti aglio e olio, und, obwohl keine Peperoncini drin sind, fühle ich mich als Teil von etwas Bedeutendem, auch wenn ich noch nicht sagen kann, von was eigentlich genau. Dafür ist es wahrscheinlich noch zu früh. Morgen werden wir ihn erkunden, diesen mystischen Ort, Kontakt aufnehmen mit der Welt der Götter und der Mythen, teilhaben an der spirituellen Aura die von diesem heiligen Boden ausgeht. Möglicherweise erkläre ich dem Koch auch die zwingende Notwendigkeit der Peperoncini in einigen seiner Gerichte, wir werden sehen.
Beseelt verlassen wir die Welt des Übersinnlichen in einem bodenständigen griechischen Taxi, dessen Innenraum etwas nach Aftershave und Knoblauch riecht. Nana wirkt zufrieden. Wir gehen Arm in Arm die letzten Schritte zu unserer neuen Behausung, begleitet vom fahlen Licht des Mondes und dem sanften Rauschen der nahen Autobahn.
Elefsina, du geheimnisvolle Schönheit, die sich vielleicht nicht jedem sofort erschliesst, wir sind nun da, und wir werden es herausfinden, alles, schonungslos, was auch immer es sein mag. Und wir werden dich fortan wieder Eleusis nennen, nach deinem alten, wirklichen Namen, den die Götter einst für dich ersannen.
Ich lasse den Tag nochmal Revue passieren. Wir liegen schon im Bett. Nana schmiegt sich an meinen Rücken. Es fühlt sich einfach grossartig an. Ich formuliere im Geiste bereits folgenden Wortlaut: „… würdest du mir nochmal so in den Nacken schnauben, wie heute Vormittag, du kleine wilde Stute?“, da vernehme ich ein deutliches, wenn auch hauchzartes Schnarchen aus ihrer Richtung. Vielleicht ist es manchmal besser, nichts gesagt zu haben.
Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 4 – Annäherung an ein Mystetrium

Paris nervt. Also, nicht die französische Hauptstadt, nein, mein Kumpel Paris. Er nervt auch nicht immer. Sonst wäre er wohl kaum mein Kumpel. Aber hat ein paar Sachen drauf, da denkst du, ach, du Scheisse …
Wir liegen zusammen auf dem riesigen Balkon eines fetten Anwesens im Vordertaunus. Die Gartenliegen sind gepolstert und rechtwinklig vor einem Couchtisch angeordnet, der über und über mit allerlei Delikatessen gedeckt ist. Paris schnickt irgendwie eine Weintraube mit dem Unterarm in die Luft und schnappt sie mit dem Mund auf. Das sieht ungeheuer lässig aus. Ich habe es versucht – vergiss es! Das ist noch eine von den harmloseren Sachen, mit denen er rumnerven kann. Aber ich will mich nicht beschweren. Er hat mich eingeladen und sich wieder mal nicht lumpen lassen. Das sieht verdammt gut aus hier. Vor allem der Wein.
Er verdient wohl ziemlich gut. Ich glaube mit Autohandel, oder Pferde, oder auch beides, keine Ahnung, er macht da kein grosses Ding draus. Vielleicht waren seine Eltern auch einfach nur gestopft. Wir haben irgendwo anders unsere gemeinsame Ebene gefunden. Fussball, Wein und schöne Frauen. Vielleicht ist es das. Keine Ahnung.
Ich will gerade den Faden unserer letzten Diskussion wieder aufnehmen, es ging da um die, in unseren Augen, unglückliche Besetzung der linken offensiven Aussenposition bei Eintracht Frankfurt, da vernehmen wir aus Richtung der weiss bekiesten Hofeinfahrt ein dezentes Gelärm, oder besser gesagt weibliches Gezwitscher. Paris springt reflexartig auf. Er sieht verdammt gut aus, wenn sich sein eng tailliertes Hemd über der muskulösen Brust spannt. Das weiss er auch. Und er lässt nichts anbrennen. Meistens.
„Ich schau mal kurz nach, was da unten so am laufen ist. Könnte sein, dass unsere Party jetzt gleich Fahrt aufnimmt“, raunt er und entschwindet wie ein Götterbote. Ich seufze verständnisvoll. Mir ist zwar nicht direkt nach Party an diesem sonnigen Frühsommernachmittag, aber ich weiss auch, dass da nichts zu machen sein wird, wenn er erstmal Witterung aufgenommen hat.
Nach kurzer Zeit erscheint er wieder auf dem Balkon. Zu meiner Überraschung allein.
„Was ist los, sind´se wieder weg? Wer war das denn überhaupt?“, frage ich, jetzt doch etwas interessierter.
„Nein, die sind noch da, zwei Töchter mit der Stiefmutter. Die ganze Family vom Chef hier, dem Oberguru, dem Dorfältesten. Da muss aber erstmal was geregelt werden, verstehst du.“ –
„Nö, versteh ich nicht.“ –
„Na ja, Alter, wir sind zwei, die sind drei, da ist schonmal eine zuviel, also, konventionell paarungstechnisch gesehen, aber die scheinen mir im Moment etwas neben der Spur.“ –
„Wo ist das Problem? Frauen sind doch immer irgendwo… – was weiss ich, anstrengend. Das hat dich doch nie abgehalten.“ –
„Ja schon, aber die wollen jetzt erstmal wissen, wer die Schönste im Land ist. Ich meine, ich weiss das eh, mussde nur mal genau hinschauen, aber dann sind erstmal zwei beleidigt, wenn ich damit rausrücke. Ich will´s mir ja nicht gleich mit allen verderben, schon gar nicht mit dem Oberboss.“ –
„Logisch, das wäre auch wenig gentlemanlike. Apropos, wie heisst denn die Schönste?“ –
„Aphrodite.“ –
„Ah, hab ich mir gedacht. Und die zweitschönste?“ –
„Helena.“ –
„Okay, die olle Stiefmutter muss weg.“ –
„Hera?“ –
Ein tiefes Horn ertönt unten im Tal. Paris zuckt zusammen.
„Scheisse, der Alte ist zurück“ ,entfährt es ihm hastig.
Ich blinzle. Das Horn ertönt erneut. Es klingt nach einem Dreissigtonner. Dann gackert ein Huhn. Ich reisse die Augen auf.
Im Zimmer ist es ruhig. Die Sonne drückt ihre Strahlen durch ein paar Ritzen der Fensterläden. Wieder gackert es. Das muss ganz in der Nähe sein. Die Geräusche sonst scheinen von weiter weg zu kommen, diffuses gewerke moderner Zivilisation. Ich richte mich im Bett auf und reibe mir die Augen. Der Platz neben mir ist leer. Ich denke an Aphrodite, wie sie im Traum ausgesehen hat, oder vielmehr, ob sie vielleicht Nana ähnlich gesehen hat. Ach herrjeh, was ist das denn für ein wirres Zeug, ich brauche dringend Kaffee.  
Ich tapse noch etwas benommen durch die Wohnung. Vorn in der Küche steht die Tür nach draussen auf. Nana sitz davor auf einem Gartenstuhl und schlürft ihren Kaffee. Ihre schönen Beine hat sie lässig ausgestreckt auf einem weiteren Stuhl platziert. Sie lächelt aufmunternd, als sie mich entdeckt. Ich beuge mich zu ihr hinunter, küsse ihren Nacken, rieche an ihrem Haar, murmle ein unkenntliches „Guten Morgen“ in mich hinein.
Wir befinden uns seitlich des Hauses in der Einfahrt zum Garten. Auch die ist mit einer grün bewachsenen Pergola überdacht. Bienen summen. Unbeeindruckt von unserer Anwesenheit scharren zwei Hühner im Staub herum. Ein Idyll, nur minimal unterbrochen vom Horn des Zeus, das der nahe Autobahnzubringer gelegentlich zu uns herüberweht. Mal ganz abgesehen von der Frage, ob dieser Zeus überhaupt ein Horn hatte, oder war das doch eventuell dieser Odin, oder Wotan, vielleicht auch die Christel von der Post, Herrgott, ich bin in der Göttefrage nicht ganz so sattelfest …
Ich schenke mir einen Schluck Kaffee ein, obwohl ich viel lieber einen Espresso hätte. Aber dazu müsste ich einigen Aufwand (Zähneputzen, Waschen, Anziehen, Losmarschieren) betreiben. Dann halt später. Nana hat ein Buch neben sich liegen, liest jedoch gerade nicht. Das sehe ich quasi als Aufforderung, von meinem Traum zu berichten, der irgendwie penetrant mein Gehirn verkleistert hat. Ich greife mir einen Stuhl und setze mich neben sie.
„Ich hatte heute Nacht einen Traum“, beginne ich mit bedeutungsvollem Timbre in der Stimme,
„der wohl kaum der Erwähnung wert wäre, gäbe es nicht die Beziehung zu diesem mystischen Ort, wären wir nicht auf dieser heiligen Mission zwischen den Welten, dem Hier und Jetzt, dem Greifbaren, und dem Olymp der Götter, dem Unnahbaren, der Mystik des Unsterblichen …“
Ich bin mir ziemlich sicher, sie hat eben mit den Augen gerollt. Jetzt schaut sie mich wieder zuvorkommend und zuckersüss an, und fragt mit diesem deutlich ironiegetränktem Unterton:
„Nun denn, Geliebter, wäre es denn im Bereich des Möglichen, eine etwas weniger ausufernde Zusammenfassung der Geschehnisse zu liefern? Ich würde gerne heute noch aus dem Haus gehen.“
Als Künstler habe ich es gelernt, Seite an Seite mit dem allgegenwärtigen Banausentum zu existieren, ohne das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Ich ignoriere die kleine Spitze und fahre fort:
„Es ist doch ausserordentlich bemerkenswert, dass mir ausgerechnet hier ein Traum widerfährt, der einen so speziellen Bezug zur Mystik dieses Ortes herstellt.“
„Mhh“ –
„Ich meine, ich träume sonst nie von griechischer Mythologie oder irgendwelchem Göttergedöns. Kann mich jedenfalls nicht erinnern.“ –
„Mh – mh, ja und, was war denn jetzt der Kern der Götterspeise?“ –
Sie kichert etwas. (Ho ho, was für ein Brüller!)
„Also, ich muss seh´n, dass ich das noch irgendwie hinkriege. Da waren drei Frauen, Hera, Aphrodite und Helena. Hera war die Stiefmutter von den anderen zwei und die Frau von Zeus, und gleichzeitig seine Schwester, glaub´ich.“ –
„Uiuiui, prominenter Besuch in deinem Kopf! Und auch noch Inzest mit dabei.“ –
Ich höre den feinen Spott, ja, ich höre ihn …
„Jedenfalls, die drei kamen vorbei bei Paris, wo ich gleichzeitig zu Besuch war.“ –
„Aha.“ –
„Ja, und da gab es ein Problem …“ –
„Jetzt wird´s interessant …“ –
„Das Problem erscheint, aus männlicher Sicht betrachtet, eher geringfügig, aber bei Götterfrauen sieht man das offenbar anders. Die Kollegin Eris, Göttin der Zwietracht, hatte behauptet, nur eine von den Dreien wäre superhübsch, die andern beiden eher semi. So ungefähr war das. Dann wollten die natürlich wissen, wer denn das Topmodel wäre, obwohl sie alle supergut ausgesehen haben, soweit ich mich erinnere.“ –
„Das möcht´ ich jetzt aber auch genau wissen“, meldet sich Nana vehement zu Wort, „wie muss ich mir die drei vostellen, so wie Helene Fischer, oder Heidi Klum, oder mehr so Frauen aus deinem Bekanntenkreis?“
„Ähh – ja – nee, mehr so wie, wie früher, mein´ ich …“
„Deine Mutter?“ –
„Ach Quatsch, eher so die junge Liz Taylor und Brigitte Bardot, oder Lauren Bacall, eher so Retro – Style, wenn du weisst, was ich meine.“ –
„Nscho – Tschi auch?“ –
„Hä?“ –
„Marie Versini, der feuchte Traum verklemmter Schulbuben.“ –
„Ja, okay, von mir aus auch Nscho – Tschi. Ist mir egal. Jedenfalls die Frauen haben den Chefgott Zeus gefragt, wer denn die Schönste in und um den Olymp sei. Der weise Mann hat natürlich abgewunken und gemeint, nee nee nee, nicht mit mir, das gibt nur wieder Zickenalarm im Haus, fragt mal den Paris, der kennt sich aus.“ –
„Also, der Paris war der Frauenexperte? Und du warst da zufällig anwesend?“ –
„Ja, keine Ahnung, so ungefähr halt, es war doch bloss ein Traum …“
Man kann ihr die wachsende Erheiterung deutlich anmerken.
„Und, was haben die zwei Frauenexperten dann für ein Urteil gefällt?“ –
„Dann war irgendwie der Traum zu Ende.“ –
„Aah, Koitus – Interruptus. Das haben Träume ja ganz gut drauf“, grinst sie mich breiter als breit an.
Ich habe langsam das Gefühl, ich kann die Message nicht so richtig rüberbringen. Vielleicht gibt es ja auch gar keine. Traum ist Traum, Mysterium ist Mysterium, ich bin der Depp und Nana hat ihren Spass gehabt. Das ist auch viel wert für die Stimmung im Team.
„Aphrodite soll die Schönste gewesen sein“, schicke ich noch hinterher, „mit der ist Paris dann nach Troja abgehauen, soviel ich weiss. Die anderen waren so sauer, dass es Krieg gegeben hat. So kann´s gehen bei Götters daheim. Ich muss allerdings zugeben, dass das nur ein sehr rudimentärer Auszug aus der ganzen Geschichte ist.“ –
Nana überlegt. „Ich habe irgendwo gelesen, in diesem Mysterium hier wurde vor allem der Göttin Demeter gehuldigt.“
„Die vom Reformhaus?“ –
„Genau. Also lass uns mal die Einhörner satteln und den ganzen Spuk in Augenschein nehmen, mein griechischer Halbgott, es ist bald Mittag“, versucht sie ein versöhnliches Schlusswort zu finden.
„Wieso nur Halbgott?“ –
„Okay, du Vollgott.“ –
Wir werfen uns für die Expedition angemessen in Schale. Der Weg zur Ausfallstrasse ist staubig, die Sonne brutzelt auf Stufe frühlingsmild, das Forschungsteam ist erwartungsfroh und wissbegierig. Vor dem Krankenhaus lauern mehrere Taxis. Wir lassen eins zuschnappen, wir wollen keine Zeit verlieren. Wie gestern geben wir als Ziel das Zentrum an, und landen in etwa an selbiger Stelle. Sechs Euro. Überschaubare Dimensionen. Der Eingang zum Mysterium ist nur einen Steinwurf entfernt. Ich halte inne, hole tief Luft, der Bedeutung des Momentes angemessen. Nana zeigt mir den Vogel und bezahlt den Eintritt.
Da stehen wir nun. Im Gegensatz zum Mysterium, da steht nämlich nichts mehr. Also, kein Stein auf dem anderen. Auf einer Schautafel ist der ganze Grundriss aufgezeichnet. Das Gelände hat bestimmt mehr als ein Hektar. Man sieht, da muss wohl einiges an Bauwerken drauf gestanden haben, Tempel, Badehäuser, Gästezimmer, etc.. Anhand der Steinmenge, die noch rumliegt, lässt sich das ganze Ausmass erahnen. Schade, denke ich, wer auch immer das hier platt gemacht hat, er muss verdammt viel Wut im Bauch gehabt haben.
Jede Menge Säulen wurden irgendwo am Rand zusammengetragen. Da wurde wohl mal in der Neuzeit der Versuch gestartet, etwas aufzuräumen. Vielleicht lagen die zu sehr auf den Wegen rum, die man überall auf dem Gelände angelegt hat, damit die ganzen Oberstudienräte in Sandalen und khakifarbenen Stoffhüten alles barrierefrei in Augenschein nehmen können. Wir trampeln uns langsam über die Pfade von A nach B, von C nach D, lesen dies und jenes auf verschieden Tafeln, werden beobachtet von jungen Menschen in roten T- Shirts, die hie und da postiert sind, offenbar um aufzupassen. Auf was eigentlich? Dass jemand Steine klaut? Oder rothäutige, betrunkene Engländer auf die Wege kotzen? Die finden erst gar nicht hierher. Eigentlich findet niemand hierher, ausser Nana und mir. Die Mystik bröckelt. Nein, nicht bei mir! Ich wehre mich! Das ist, verdammt nochmal, das allererste Mysterium in meinem Leben, mal abgesehen von einigen merkwürdigen Frauenbekanntschaften. Ich beschliesse, irgendwo ein Stückchen Stein abzupickeln und mitzunehmen, sozusagen als eine Art magische Reliquie, als mystisches Statement eines untergegangen Geisterkultes, vielleicht der Beginn einer neuen Weltreligion, die ich entwerfe und deren Gott ich selbst bin … – äääh, ja.
Nana fragt, ob ich was hätte, weil ich so belämmert gucken würde. Ich verneine. Ausserdem meint sie, da gäbe es noch ein Museum, da sollten wir vielleicht hin. Genau das machen wir.
Das Museum ist klein, aber fein. Ein Haus älteren Stils, am Hang einer leichten Anhöhe am Rande des Mysteriums gelegen. Der Inhalt ist eigentlich erwartungsgemäss, mehr oder weniger gut erhaltene, antike Skulpturen in allen Grössen, dazu Werkzeuge, Waffen und allerlei kultischer Hausrat. Handwerklich sind diese menschlichen Abbilder einwandfrei, auch wenn ab und zu ein Arm oder Kopf  fehlt, oder zwei, das muss man einfach neidlos anerkennen. Aber ich habe auch das Gefühl, alles schon mal gesehen zu haben. Tja, eben klassisch, traditionell, langweilig, wie für Postkarten aufgestellt.
Ich bekomme Hunger. Es bedarf keiner grossen Überredungskunst, Nana geht es ähnlich. Sie nickt sofort meinen Antrag auf Ortswechsel ab. Wir schlendern lässig über die Anlage gen Ausgang. Dabei beobachte ich einerseits die Umgebung bezüglich meines angepeilten steinigen Souvenirs, andererseits behalte ich natürlich die Wächter im Auge. Nana fotografiert. Das macht uns unauffällig. Aber es ist wie verhext, von keinem der Quader lässt sich etwas abpopeln. Ich verschiebe die Aktion zunächst.
Vor dem Haupteingang verläuft eine ruhige Nebenstrasse mit kleineren Privatanwesen am Zaun des Mysteriums entlang. Wir entdecken ein kleines Bistro schräg gegenüber des Eingangs. Eine Art Pavillion mit Garten, ein paar Tische verteilt auf kiesbedecktem Boden unter niedrigen Bäumen, gesäumt von einer mannshohen Hecke. Einladend. Es gibt kleinere Gerichte, mit denen auch Vegetarier ganz gut klar kommen. Hier werden wir unser heutiges Basislager einrichten, schlage ich vor, und die weitere Vorgehensweise erörtern. Nana meint, es gäbe laut Recherche im Internet verschiedene Kulturangebote, wenn auch zur Zeit keine Konzerte oder andere Live – Aufführungen, so doch zumindest die ein oder andere Ausstellung. Ich bemerke, der Kulturhauptstadt – Zaster dafür sei vermutlich schon weitgehend rausgeballert worden. Aber, es sei doch hier laut Landkarte immerhin ein Ort am Meer, und das wiederum liesse auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von strandartigen Gebilden inklusive Promenade schliessen. Ich muss allerdings gestehen, nach meinen bisherigen Eindrücken von Eleusis war ich mir da nicht so sicher. Wir beschliessen nach ausgiebiger Stärkung, den Weg zum Wasser und zur Kultur einzuschlagen. Die Hauptfussgängerzone, an welcher wir unser gestriges Abendmahl zu uns genommen hatten, würde uns zu den gewünschten neuen Erkenntnissen führen. Unter Umständen liesse sich der Weg dorthin mit etwas Wein beflügeln, dem Getränk der Götter, wie ich noch anmerke, da wäre ich mir z.B. ganz sicher. Nana lehnt mit Verweis auf die Tageszeit ab.
Rechter Hand das Mysterium, linker Hand eine lange Reihe gastronomischer Betriebe, meist geschlossen, stapfen wir ein paar hundert Meter bis zu einem parkähnlichen Platz mit hohen Bäumen. Dahinter öffnet sich das Meer. Öffnen ist vielleicht unglücklich formuliert, man sollte besser sagen, da ist dann Wasser. Eine gemauerte Kante weist jedenfalls darauf hin, dass der Ort hier zu Ende ist. Die Sicht in die Ferne lässt sich auch nicht so recht auftun, da liegt die Insel Salamina im Weg. Vereinzelte Palmen erinnern an etwas, was hier nie stattfindet. Links streift der Blick die Mole eines kleinen Hafens, ein paar Boote, keine Yachten, schmuckloses Ambiente, der Gegenentwurf des mediteranen Postkartenidylls. Rechter Hand der Strand? Doch, scheinbar ein Strand. Ein Strändchen, vielleicht 100 Meter lang, bestenfalls. Halb eingegraben im Sand ein grosser Reifen, von einem Traktor vielleicht, raffinierte Symbolik eines umspülten Orakels, quo vadis Kulturmetropole Europas auf Zeit? Oder einfach nur Sondermüll? Ansonsten ist niemand da. Das Meer plätschert wie geistesabwesend vor sich hin. Es ist auch nur rein zufällig da.
Wir begeben uns nach rechts, laufen eine Strasse am Wasser entlang. An einer langen Mole, die ins Meer hinaus führt, ist ein kleines ausgebranntes Ausflugsschiff fest gemacht. Donnerwetter, die geben aber Gas. Mir kommt es vor, als befinde man sich im Wettstreit mit Igoumenitsa um den Titel der deprimierendsten Gemeinde Griechenlands. Ausgang offen.
Ein paar Meter und fünf abgestorbene Palmen weiter, betreten wir offenbar einen der kulturellen Hot – Spots. Es ist das aufgemotzte Gelände einer alten Olivenölfabrik. Wenn man den weitläufigen Hof betritt, trifft man zuerst auf einen Kiosk mit ein paar Tischen und Stühlen davor. Dahinter steht das vermutlich ehemalige Verwaltungsgbäude in Form eines zweigeschossigen Villa, hinter der widerum ein improvisiertes Amphitheater aus einer Stahlrohrkonstruktion aufgebaut ist. Auf der anderen Seite des Hofes liegen zwei grosse Ausstellungshallen nebeneinander. Davor steht ein grösseres Kunstwerk, ein skuriles Gefährt, das aus irgendeinem einem Hollywood – Fantasy – Epos entliehen scheint. Oder woher auch immer. Jedenfalls, das ganze Areal kommt frisch renoviert und mit neuem Glanz daher. Man sieht, hier sind Gelder geflossen.
Der Kiosk ist besetzt, die Hallen geöffnet, der Eintritt frei, wir werden dieses kulturelle Angebot auf jeden Fall wahrnehmen. Ausser uns verlieren sich noch eine handvoll anderer Gestalten auf dem Gelände. Wo die auf einmal alle herkommen?
Die eine Halle ist der berühmten griechischen Filmschauspielerin und Kulturministerin Melina Mercury gewidmet, mit allerlei Exponaten aus ihrer umfangreichen Lebens – Performance, hauptsächlich in Form von Fotos mit entsprechenden Begleittexten. Schönes Ding, aber das zieht sich.
Die zweite Halle macht mich dann doch einigermassen sprachlos, aber hallo. Sie ist mit einer ziemlich fetten Video / Klang – Installation ausgestattet, die der deutsche Künstler Heiner Goebbels da reingedengelt hat. Um meine Überraschung zu erläutern, muss ich kurz weiter ausholen. In jungen Jahren, wir sprechen hier von Mitte der Siebziger, weilte Heiner, so wie ich auch, in Frankfurt am Main. Obwohl wir keinen näheren Kontakt miteinander pflegten, fühlten wir uns beide politisch der damaligen Sponti – Szene zugehörig. Man sah sich gelegentlich auf den entsprechenden Ringelpietz – Veranstaltungen, wo auch Heiner gern das ein oder andere musikalische Schmankerl zum Besten gab. Da er sich eher der künstlerischen Avantgarde verpflichtet sah, galten seine Darbietungen bisweilen als schwer verdaulich. Aber Respekt, er hat es durchgezogen. Mittlerweile ist er Professor und ein international anerkannter Künstler.
Nun ja, wie auch immer, so trifft man sich wieder, denke ich, während sich ein archaischer Klangteppich mit surreal anmutenden Videosequenzen über mich ergiesst. Geplättet verlasse ich die düstere Halle. War das mein Erweckungsszenario, die verborgene Pforte zur Spiritualität dieses wundersam zwiespältigen Eleusis?
Der Wärter der Halle raucht eine Zigarette vor der Tür. Nicht die erste. Der Aschenbecher ist voll. Immerhin, er hat Arbeit.
Ich treffe Nana wieder, wir haben uns kurz aus den Augen verloren, als wir unseren unterschiedlichen Motiven nachgejagt sind. Das ist normal. Jetzt gehen wir zusammen einen Kaffee trinken und tauschen uns aus über das Erlebte, unsere unterschiedlichen Blickwinkel. Nana zeigt ihre Fotos, ich berichte von meinen Zweifeln, einer gewissen Enttäuschung, die sich nicht verhehlen lässt. Ich bin mysterientechnisch überhaupt nicht so ergriffen, wie ich das erwartet hatte. Sollte der alte Zauber diese Ortes etwa verflogen sein, entweiht von rastloser Neuzeit, die nur noch den gefrässigen Götzen geistloser Gier huldigt. Was habe ich eventeuell übersehen? Welche Signale habe ich nicht empfangen. Bin ich zu schlecht vorbereitet? Habe ich das Ganze in meiner nonchalanten Art etwa zu oberflächlich angegangen?
Ja, ich bin schlecht vorbereitet. Ich bin eigentlich immer schlecht vorbereitet. Nicht erst seit der Schulzeit, wahrscheinlich schon im Mutterleib. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein ganzes Leben. Damit muss jetzt Schluss sein! In mir reift der Entschluss, es noch einmal anzugehen, diesmal besser gerüstet, wacher, aufmerksamer …

Es ist Abend, Nana sitzt im Bett und liesst in einem Buch. Als ich mich zu ihr lege, unterbricht sie die Lektüre.
„Ich fahre morgen nach Athen, ich muss den Kamera – Akku irgendwie geladen kriegen, oder ein Ladegerät kaufen“, gibt sie sogleich bekannt. Ich nicke verständnisvoll.
„Und du? Kommst du mit?“ –
Ich schüttele den Kopf.
„Sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich brauche mal etwas Zeit für mich. Ich muss den spirituellen Zugang zu diesem Ort finden.“ –
Sie schaut etwas skeptisch drein.
Ich reisse nochmals die vorherigen Überlegungen zu meinem ganz persönlichen Mysterium – Dilemma an, verschweige allerdings, dass ich, ausser den tugendhaft – wissenschaftlichen Interessen, auch ganz gern mal einfach rumgammeln möchte, Beine hochlegen, den Zeus einen guten Mann sein lassen. Ich ahne, der Besuch im Moloch Athen würde letztendlich bedeuten, den ganzen Tag von Fotomotiv zu Fotomotiv zu rennen, um sich abends dann mit dicken Füssen drei – vier Rotwein und ein Bifteki in die Birne zu kloppen und erschöpft ins Bett zu sinken.
Nana guckt noch einen Tick skeptischer.
„Aber du hast nichts dagegen, wenn ich allein nach Athen fahre?“ –
„Nein, nein, um Gottes Willen, kein Thema, ich komm´ nächstes mal mit, läuft ja nicht weg die Akropolis.“ –
Sie mustert mich eine Weile mit verkniffenen Augen, dann sagt sie nur: „okay“.
Manchmal, ja, manchmal kann sie auch verdammt unkompliziert sein, meine kleine Aphrodite.

Diesmal kräht kein Hahn, es säuselt nur ein Smartphone seine uninspirierte Weckmelodie. Ich werde mich nie an sowas gewöhnen. Wir springen aus den Federn und richten uns her. Nana sieht nach kurzem Eingriff wieder mal blendend aus, ich eher wie hingerichtet. Ein sich wiederholender Vorgang, einem Naturgesetz gleichend, den ich zu akzeptieren gelernt habe. Sie packt routiniert ihre Ausrüstung und in null komma nix sitzen wir in einer der Cafeterias an der Ausfallstrasse zwischen Pappbecher – Cappuccinos, griechischen Lieferfahrern und asiatischen Putzkräften. Da die Abfahrtszeit näher rückt, halten wir uns nicht lange auf. Der Bahnhof ist gleich um die Ecke. Aus dunstiger Ferne gleitet der Vorortszug heran, eine feste Umarmung, ein Kuss, ein letzter Wink, das Zischen der schliessenden Türen, als unbarmherziger Abschiedsgruss des mechanisierten Alltags. Mich erfasst ein kurzer Moment der Wehmut, meine Geliebte so ziehen zu lassen, aber der sentimentale Anflug ist schnell vorbei. Ich habe einen Auftrag. Eleusis sprich!
Also, erstmal spricht niemand, ausser ich mit der Dame hinter dem Tresen der Cafeteria, der ich zu erklären versuche (funny english), dass der Cappuccino mit weniger Milch deutlich an Format gewinnen könnte. Sie liefert prompt ein sehr überzeugendes Ergebnis. Spitzenkraft! Ich ziehe mich zufrieden mit meinem Getränk in unser Apartment zurück. Es ist noch früh am Tag. Ich lungere mit einem Buch gemässigter Schundliteratur an verschiedenen Standorten der Unterkunft, im Bett, auf dem Sofa, auf Stühlen in der Hofeinfahrt, am Küchentresen. Dabei konsumiere ich verschiedene weniger hochwertige Nahrungsmittel, Chips, Cracker, Schokolade, Limo. Desweiteren versuche ich per Internet Informationen zu sammeln (bessere Vorbereitung), die meine Mission zu einem befriedigenden Erfolg führen sollen. Ich erfahre, dass Eleusis die bisher kleinste und hässlichste europäische Kulturhauptstadt ist. So bestätigt sich wenigstens mein Eindruck, den ich bei unserer Ankunft schon hatte. Weiterhin wird konstatiert, dass es in der Neuzeit mehr als Schuttabladeplatz für die Athener galt, während es in der Antike mehrere Jahrhunderte lang eine der wichtigsten Kultstätten der griechischen Mythologie darstellte. So kann´s gehen.
Zitat aus dem Netz: „Wir wollen den Athenern eine Idee davon geben, wie grossartig Elefesina ist“, sagte Michail Marmarinos, künstlerischer Leiter von Eleusis 2023. Das ist mutig. Das Postkarten – Griechenland, das man von Ferienbildern kennt, sucht man hier nämlich vergeblich: Es gibt keine malerischen Gassen, keine weiss getünchten Häuschen, keine hübschen Tavernen am Kai. Doch es wird ja wohl einen Grund dafür geben, dass sich der Hafenort für das begehrte EU-Programm qualifizierte, das Mitte der achtziger Jahre von der griechischen Schauspielerin und Kulturministerin Melina Mercouri (!) erfunden wurde. (Zitat Ende).
Böse Zungen behaupten ja, das eigentliche Mysterium sei die Vergabe des Kulturhauptstadt – Titels an Eleusis gewesen. Ach ja, immer diese bösen Zungen. Na, jedenfalls hat man sich dann einiges an symbolhaftem Brimborium einfallen lassen, um das hässliche Entlein aufzuhübschen. Die ganzen Events wurden z.B. als durchnummerierte Mysterien präsentiert. Ich erfahre in diesem Zusammenhang, dass mein alter Bekannter das Mysterium Nr. 44, mit dem Titel „Seven Columns“, beigesteuert hat.
Zitat aus dem Netz: Beim Auftaktwochenende beeindruckte daher vor allem die site-spezifische Installation des Musikers, Regisseurs und Künstlers Heiner Goebbels, Mystery 44, 7 Columns, 2023. Die 5-Kanal-Videoinstallation um ein dunkles Wasserbecken herum ist in der Lagerhalle einer verlassenen Olivenöl-Fabrik, dem Hauptveranstaltungsgelände, untergebracht. Lichteffekte, die Projektionen eines älteren Tanzstücks Goebbels und seltene Tonaufnahmen aus Feldforschungen des Musik-Ethnologen Samuel Baud-Bovy verweben sich zu einem anmutigen und trotz seiner düsteren Grundstimmung leichten Licht-Bild-Klangraum, der nichts bedeuten will, doch bar jeder direkten politischen Bezugnahme mit seiner Nähe zum Demeter-Heiligtum schnell an Gewalt, Hades und den Raub der Proserpina denken lässt. (Zitat Ende)
Holla die Waldfee. Jetzt weiss ich wenigstens, was mich da gestern überrollt hat. Ich überlege kurz, ob die medizinische Betreuung des Wachpersonals von Mystery 44 im Hinblick auf Spätschäden gewährleistet ist. Und wer zur Hölle ist Proserpina?
Der Vormittag rinnt dahin, meine Festplatte beginnt unter dem gnadenlosen Bombardement der Informationen zu qualmen. Aber ich fühle mich vobereitet. So besteige ich das zwangsläufige Taxi und bin zur fortgeschrittenen Mittagszeit am Brennpunkt meiner spirituellen Sehnsucht. Doch zunächst verlangt der Körper ganz legitim nach Stärkung. Ich steuere das bekannte Italiener – Imitat in Sichtweite des Mysteriums an. Um die Betonung nochmals deutlich auf Stärkung zu legen, fällt meine Wahl auf ein ordentliches Kalbskottlet mit gemischtem Salat und einen spritzigen Pinot Grigio. Eine ausgezeichnete Wahl, wie sich herausstellen sollte, die auf jeden Fall mit einem weiteren Glas gewürdigt werden darf. Bis zum Espresso ist meine sensorische Tiefenschärfe bereits optimal auf sämtliche daherkommenden Götterdämmerungen eingepegelt, wo auch immer die rumwabern würden. Zum Abschluss sollte der Ramazotti auf Eis jegliche unbedachte Eile vermeiden helfen.
So gerüstet, betrat ich also ein weiteres mal die mystische Stätte, das innere Gefühl moderat Erhaben bis diffus alternierend.
Doch zunächst führt mich ein Drang auf die moderne Container – Toilettenanlage, die nagelneu und nahezu unbenutzt das Gelände ziert. Ich finde eine Kabine im tadellosen Zustand. Möglicherweise erleichtert das Absetzen ein wenig Ballasts gleichzeitig das Aufspüren eines neuen Zugangs zu jenen sagenhaften Gefilden. Es herrscht eine fast meditative Ruhe um mich herum. Alles scheint im Fluss, alles wirkt entschleunigt, schwebend … Ich ziehe ein Halbliterfläschchen Vino Bianco aus meinem Jackett, das ich vorsichtshalber beim Italo – Griechen vorhin erworben habe, und tauche mittels Smartphone in weitere Studien ein. Mich interessiert ganz speziell, wer den Laden hier eigentlich so demoliert hat. Nach dem Einfall der Kostoboken, lese ich, im Jahr 170 n. Chr. und seiner Zerstörung wurde der Tempel letztmals originalgetreu wieder aufgebaut. Jesus Maria! Wer zum Teufel sind denn diese Kostoboken? Davon habe ich ja noch nie gehört. Ich stelle mir ein Verkehrsschild vor: Achtung, Kostoboken auf den nächsten 5 Kilometern. Quatsch! Konzentrier´ dich!
200 Jahre später war´s dann endgültig vorbei, da kamen die Goten unter Alarich I. (im Jahr 395/96) und machten das Heiligtum endgültig nieder. Angeblich um einen Kaiser Theodosius I. einen religösen Gefallen zu tun. Ich habe da meine ganz eigene Theorie. Ich vermute nämlich, dass Alarich mal ein bisschen relaxen wollte vom ewigen Verwüsten und Brandschatzen. Da hat ihm ein Kumpel gesagt, fahr mal da runter zu den Helenen, lange weisse Strände, kristallklares Wasser und Weiber wie Göttinen. Und dann ist er losgezogen, der Alarich, vorsichtshalber mit Streitmacht, man kann ja nie wissen. Seine angetraute Brunhilde, Ehefrauen hat man ja damals nicht so gern mitgenommen, durfte ihm noch schnell eine Kettenbadehose (aus Kettenhemdmaterial) zusammenklöppeln. Damit stand dem antiken Beach – Fun nichts mehr im Wege. Ja, und dann stand er endlich da, nach ein paar Monaten strapaziösem Anritt, am „Strand“ von Eleusis, in der schicken neuen Bermuda – Kettenbadehose, das Wolfspelz – Handtuch lässig über der Schulter, und was war? Kaum Strand, nur so götterfromme Reformhaus – Weiber, und vermutlich steckte obendrein ein havarierter, halber Streitwagen im Sand und ein paar leere Amphoren kullerten provokativ in der äusserst mässigen Brandung. Ja also bitte, dann war wohl endgültig Feierabend, dann riss er, der gotische Geduldsfaden. Wenn der Gote mal so richtig in Wut gerät … – da, schaut euch nur hier um.
Meine Theorie erscheint mir durch und durch plausibel, doch gilt es nun, sie mit harten wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Nach ziehen der Spülung, betrete ich das Feld der Forschung. Ich wähne mich zunächst allein, begebe mich zu einen Haufen aufgetürmter Trümmerteile und inspiziere das Material auf Risse und Spalten. Wir erinnern uns, was steht noch auf meiner archäologischen To do – Liste? Richtig, kleines Bruchstück (Reliquie, Religionsgründung, usw.) entnehmen und sichern. Zu diesem Zweck führe ich ein Schweizer – Messer mit mir, mit dessen Dosenöffnerfunktion ich nun den Kalksandstein bearbeite. Im Augenwinkel wird mir eine Bewegung gewahr. In knapp 100 Metern Entfernung hat eine junge Frau, mit dicken, kurzen Beinen, Brille und Pferdeschwanz Position bezogen. Das rote T – Shirt weist sie unwiderruflich als Wächterin des Heiligtums aus. Sie mustert mein Treiben bewegungslos. Spontan entschliesse ich mich zu dem beliebten Kinderspiel „Ei, wo isser denn?“ Ich tauche ab und bewege mich im Schutz des Steinhaufens ein paar Meter weiter. Dann tauche ich wieder auf und lächle sie an. Dies wiederhole ich noch zwei – bis dreimal mit wechselnder Grimassierung. Das scheint ihren Humor nicht wirklich zu treffen. Angestachelt von diesem zähen Publikum, versuche ich mich in einer bekannten Monty – Python – Nummer: „The Ministry Of Silly Walks“. Dabei bewege ich mich in extrem merkwürdigen Schrittbewegungen in Richtung der Säulenhaufen, tauche dahinter ab und verharre einen Moment still. Nebenbei entdecke ich einen kleinen Riss in vor mir liegendem Pylon, in welchem ich sofort das Messer ansetze. Und tatsächlich, es platzt ein winziges Teil ab, kaum grösser als ein zehner Maschinenschraubenkopf. „Yes“, entfährt es mir spontan. Ich klaube die Beute auf und stecke sie ein. Hinter mir, keine 10 Meter entfernt quäkt derweil ein Walky – Talky . Die Fleischige mustert argwöhnisch mich und die Geschehnisse aus nächster Nähe. Ich weiss zwar nicht, was sie tatsächlich mitgekriegt hat, aber es ist definitiv Zeit, den Rückzug anzutreten, zumal aus Richtung des Museums zwei kräftige, rotbekleidete Gestalten sich zügig auf den Weg gemacht haben.
„Mein Name ist Kaiser von der Kostoboken Sach- & Leben“, höre ich mich sagen, „ich bin hier um etwaige Schadenersatzansprüche der Geschädigten Demeter im Hinblick auf etwaige Vor – bzw. Nachbeschädigungen durch Dritte und gegebenenfalls auch auf Verjährungsfristen hin zu überprüfen. Ist ja kein Stein mehr auf dem anderen, wenn ich mal so sagen darf, hohoho. Aber dafür sind wir ja da.“
Ich bin mir sicher, sie versteht keinen Ton. Während ich so rumschwadroniere, bewege ich mich betont unhektisch gen Ausgang.
„I´m Mr. Kaiser, from the Kostoboken – Insurance Ltd., I´m hear to …”
Der Versuch in Englisch scheitert an einem eklatanten Vokabeldefizit, was letztendlich egal ist, da der Text inhaltlich eh dem sogenannten Bull – Shit zugerechnet werden darf, und das eigentliche Ziel, der Ausgang, längst erreicht ist.
„Sorry, I forgot my card in the Hotel, but I´ll give you a call as soon as possible …” Lässig winkend passiere ich den Ausgang, bevor die vermeintliche Verstärkung eintrifft. Ohne Umwege suche ich das bekannte Bistro gegenüber auf und finde einen behütet wirkenden Platz unter einem knorrigen Olivenbaum. Puh, das war´s erstmal. Ich bestelle Espresso und Gebäck. Verstohlen ertaste ich das kleine Steinchen in meiner Hosentasche.
„Alles wird vergehen, du wirst bleiben“, spricht der neue Religionsgründer vergnügt und weise in sich hinein. Dann zieht er sein Buch aus der Jackentasche und beginnt ein wenig zu lesen.

„Hello, is everything okay?“ Eine junge Kellnerin rüttelt an meiner Schulter. Ich blicke verwirrt um mich. Aaah, das Bistro. Ich komme wieder zu mir. Muss wohl eingeschlafen sein. Ein dünner Speichelfaden hängt in meinem Mundwinkel. Unangenehm. Ich lächle schüchtern und wische ihn weg. Sie ist wirklich sehr freundlich, hat sogar ein Glas Wasser hingestellt. Vermutlich kennt sie das von ihrem  Grossvater daheim. Ich bezahle meine Rechnung und verlasse diese äusserst angenehme Oase inmitten mystischer Ödnis. Ein bisschen Bewegung wird mir gut tun, dem leichten Brummschädel auch. Auf dem Weg checke ich mein Smartphone. Es sind Unmengen von Bildern angekommen. Nana lebt! Sie kündigt sogar ihre baldige Rückkehr an. Es ist später Nachmittag. Ein leichter Wind zieht vom Meer herauf. Ich spüre, dass sich das Mysterium irgendwie entzaubert hat. Vielleicht war nie ein Zauber da, oder nur bis dieser Alarich kam, zur Zeit eher nicht. Bei mir jedenfalls nicht. Schade.
Ich stehe am „Strändchen“ und blicke nach Westen. Wolken verstecken den Sonnenuntergang. Ein paar Tropfen wehen mir ins Gesicht, ich stelle reflexartig den Jackenkragen hoch. Irgendwo da draussen müssen ein paar illegal abgestellte Schiffswracks vor sich hinrosten. Ich vermute, hinter der Zementfabrik. Könnte sein, könnte nicht sein, ich werde es herausfinden. Aber nicht jetzt.
In einem Supermarkt kaufe ich Wein, Käse, Oliven und noch allerlei sonstige Leckereien. Nana vermeldet, sie sässe schon im Zug, ich vermelde meine grosse Freude darüber und baldige Ankunft im Apartment. Sie trifft tatsächlich schon wenige Minuten nach mir ein.
Es gibt beiderseits viel zu berichten. Sie wartet mit einem umfangreichen Bildvortrag, Athen á la Nana, inklusive Akropolis, auf, ich gebe wissenswertes über die Historie des ehemals heiligen Eleusis zum Besten, lasse aber das alberne Versteckspiel mit der Dicken aussen vor. Desweiteren gebe ich meine neusten Erkenntnisse zur fehlenden Magie der Kultstätte bekannt, die ich mehr oder weniger auf einer Toilette sitzend gewonnen habe (was ja schon für sich selbst spricht), zeige den kultigen Stein vor und erkläre das Projekt „Mysterium“ hiermit für beendet.
„Man muss auch mal loslassen können“, kommentiert Nana treffend.
Wir trinken Wein, essen Oliven, und lassen den lauen Abend auf uns zukommen. Vom nahen Autobahnzubringer bläst Zeus in sein Horn. Sie küsst mich sanft, und ohne, dass ich etwas tun müsste, wird sie zur Heldin meiner ganz persönlichen Mystik.
Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 5 – Akropolis Adieu
Fahles Morgenlicht sucht sich seinen Weg ins Schlafzimmer. Muss das denn unbedingt sein? Mein Mund ist staubtrocken. Ich suche nach meiner Decke, schlaftrunken greife ich nach irgendwas, Nana knurrt mich an, reisst mir die Decke weg. Ich richte mich benommen auf. Wasser, gebt mir Wasser! Da steht sie doch, eine Plastikflasche neben dem Bett, Gott, nein, Zeus sei´s gedankt. Ich lasse es gierig in mich hineinlaufen, verschlucke mich, hüstele vor mich hin. Nana knurrt wieder. Ich gehe auf´s Klo. Meine Decke liegt vor dem Bett. Ich falle fast drüber. Klamotten liegen überall verstreut auf dem Boden, kleine Wegmarken eines leidenschaftlichen Überfalls, ich erinnere mich zaghaft, muss grinsen. Wer war Täter, wer war Opfer? Ich lasse mich wieder ins Bett fallen. Nana knurrt, gleich beisst sie.
Ich bin dann wohl wieder eingenickt und das ist gut so, fühle mich gleich viel fitter. In der Küche trällert Nana vor sich hin, ein kleines Potpourri unbestimmter Lieder. Ich meine „Sweet Caroline“ zu hören, kann aber auch die „Polonaise Blankenese“ sein. Sie klingt zufrieden. Es duftet nach Kaffee und nach Aufbruch. Ich beeile mich.
Wenig später, wir sitzen im Triebwagen nach Athen. Die Landschaft gleitet vorbei, aber sie wird nicht schöner. Eleusis scheint die Blaupause für die ganze Gegend hier zu sein, industrielle Tristesse in kargen Olivenhainresten, ein Güterbahnhof ohne Güterzüge, Mahnmal unerfüllter Versprechen auf eine prosperierende Zukunft. „Akropolis Adieu …“ – Mist, wo kommt denn das jetzt her? Die Melodie geht mir nicht mehr aus der Birne, wie ein lästiges Insekt, das man nicht los wird. „ … ich muss gehen, die weissen Rosen sind verblüht, tralala …“ Aber leider geht Mireille Mathieu nicht und plärrt einfach weiter. Die Fahrt dauert glücklicherweise nicht so lange, eine gute halbe Stunde. Es gelingt mir einfach nicht, sie loszuwerden. Halt die Klappe!
Die Stadt wird dichter. Von weitem sieht sie aus wie ein Teppich weisser Schuhkartons, die irgendein betrunkener Halbgott in die Landschaft geschmissen hat. Von nahem wird es schmuddeliger, abgenutzter, als wäre die Sorgfalt für ein aufgeräumtes Ambiente so gut wie aufgebraucht. Die Bahn fährt langsamer. Athen – Larisa steht auf weissen Schildern zu lesen. Athen, wir kommen! Es regnet leicht.
Ich bitte Nana, mir „Weisse Rosen aus Athen“ von Nana Mouskouri vorzusingen, sozusagen als Gegengift für den anderen Ohrwurm, aber sie lehnt ab. Naja, könnte auch nach hinten losgehen …
Vor dem Bahnhof geht es gleich runter zur U – Bahn. Nana ist ortskundig, ich muss nur hinterher dackeln. U – Bahnen in fremden Städten faszinieren mich. Das ist so eine Macke von mir, neben vielen anderen. Es riecht oft ähnlich, nach Schlosserwerkstatt, Putzmitteln und Moder. Aber es klingt natürlich unterschiedlich aufgrund der räumlichen Begebenheiten, manchmal ist es eng und stickig, dann wieder hoch und weitläufig. Und natürlich der Sound der Waggongs, innen wie aussen, es rattert und ruckelt, es summt, es gibt Schläge und fiepende Elektronik, die Symphonie eines mechanisierten Maulwurfs. Ich könnte tagelang in seinen Höhlen verbringen. Man verliert jede geografische Orientierung. Nur die Fahrgäste sind überall ähnlich, in sich gekehrt in freudlosem Warten.
Und niemand hört, was ich höre: „Weisse Rosen aus Athen“. Es ist ein Elend! Ich muss versuchen, eine Verbindung zu dieser Stadt herzustellen, aber das geht so nicht.
Die U – Bahn surrt herein, sie ist nur mässig gefüllt. Alles wirkt modern und ein bisschen abgenutzt. Ich habe nicht gefragt, wo wir hinfahren, ich lese es an den Stationsschildern ab, Omonia zum Beispiel. Das klingt gut. Und gut ist vor allem, dass man es nicht nur in griechischer Schrift angeben hat. Nana meint, wir steigen in Syntagma aus. Was für ein Name! Wie eine Techno – Disco, oder eine streng geheime Chiffriermaschine. Ich nicke zustimmend.
Wir verlassen die Unterwelt ins gleissende Sonnenlicht. Der Regen hat aufgehört. Dafür hat die oberirdische Menschenmenge deutlich zugenommen, mit einem unüberhörbar starken Touristenanteil. Eine Gruppe kanadischer Backpackerinnen rennt uns fast über den Haufen, na ja, vielleicht auch Norwegerinnen, irgendwie sehen die alle gleich aus. Wir befinden uns offenbar im Zentrum der touristischen Begierde. Es gibt überall Hinweise, dass man sozusagen ab hier den Aufstieg zur Akropolis in Angriff nehmen sollte, die hier mitten in der Stadt auf einem kleinen Berg thront. Es sei denn, man ist so verdreht wie ich, und möchte lieber in einem Strassencafe sitzen, Espresso trinken und die eigene philosophische Grundhaltung einer Überprüfung unterziehen, oder wahlweise diverse globale Fussballergebnisse checken. Das wäre dann eine weitere Macke von mir, diese sogenannten Touristenmagneten trotz persönlicher Anwesenheit vor Ort einfach mal links liegenzulassen. Es ist mir oft zu viel Zirkus für ganz wenig Gegenleistung. Da wirst du z.B. bei der Sagrada Familia durchgecheckt wie auf dem Airport, nachdem du einen Eintrittspreis fast in Höhe eines Überseefluges hingeblättert hast, um dann für ein paar Minuten mit viel „ah“ und „oh“ um dich herum, beeindruckt in die Kuppel zu starren, die schon millionenfach von Amateuren, wie Profis abgelichtet wurde. Mit der heutigen digitalen Technik wäre es doch ein Leichtes, die eigene Grinsefresse in oder vor jeden Tempel dieser Welt zu montieren, falls man das für erstrebenswert hält, und sich den ganzen Hassel drumherum zu ersparen.
Nana kennt meine Einstellung. Da sie bereits oben war und wunderbarste Fotos von jenem Sehnsuchtsort touristischer Einfälltigkeit geliefert hat, ist für uns das Thema durch.
Was allerdings noch nicht durch ist: der lästige Ohrwurm. Nachdem der Akropolis endgültig Adieu gesagt, die weissen Rosen langsam verblüht schienen, taucht plötzlich ein weiterer hartnäckiger Gassenhauer in meinem inneren Ohr auf, mit dem ich zwar thematisch weitgehend konform gehe, der sich aber in penetranter Dauerschleife jeglicher Geniessbarkeit selbst beraubt, verheissungsvoll betitelt mit „Griechischer Wein“.
Ich teile Nana meine Pein mit, sie schüttelt verständnislos den Kopf und schlägt eine psychologische Grundsanierung meiner mentalen Schaltzentrale in einer dafür vorgesehenen Fachklinik vor. Ausserdem hält sie die sofortige Zufuhr von ganz banalen Kohlehydraten für dringend erforderlich, um meine offensichtlich dauerhafte Unterzuckerung zu beheben. Der Tonfall ihres Vortrages mahnt mich an, die nähere Umwelt künftig etwas spärlicher mit Informationen zu meinen internen musikalischen Aufführungen zu versorgen. Ich habe verstanden!
Wir erstehen zwei überteuerte Sandwiches und beschliessen, alsbald nach interessanteren lukullischen Herausforderungen Ausschau zu halten. Zunächst sieht das Angebot mehr nach steinernen Zeugnissen einer zweifellos imposanten Historie aus, wie eigentlich in ganz Griechenland. In entsprechenden Stadtführern findet sich eine Vielzahl von mehr oder weniger erhaltenen Bauwerken aus verschiedensten Epochen der Antike. Die unvermeidlichen Römer haben selbstverständlich auch mitgemischt. Aber mir sind das, ehrlich gesagt, ein Tick zu viele Säulen, ob stehend oder liegend. Ich habe Hunger.
Nana hakt sich bei mir unter und meint, wir sollten vielleicht in die alte Markthalle hier um die Ecke reinschnuppern, da gibt es doch meist jede Menge Leckereien. Ich stimme zu, wohlwissend, dass in jenen historischen Ungetümen aus Eisen, die noch oft in den Städten des mediteranen Raumes gut erhalten sind, dem gemeinen Touri die Mär eines ursprünglichen Handels vorgegaukelt wird. Nun denn, lassen wir es gaukeln.
Die Gerüche sind vielfältig, ein murmelndes Grundgeräusch mäandert durch die schwarz getünchte Metallkonstruktion. Irgendwann erreichen wir die unvermeidlich Fischabteilung, wo in einem improvisiert wirkendes Schnellrestaurant, wie eine Oase zwischen Sackkarren und Holzkisten, allerlei Meergetier auf Grillplatten zubereitet wird. Natürlich, da zieht es uns hin.
Wir finden einen Platz und bestellen erstmal Wein, Brot, einen Fisch (auf Fingerzeig) und eine Fischsuppe. Das mit dem Wein und dem Fisch geht relativ flott. Die Suppe lässt komischerweise auf sich warten. Nach einiger Zeit beobachte ich eine dickliche junge Frau mit fettiger Schürze, wie sie sich mit einem tellerartigen, dampfenden Pappgefäss, aus den gegenüberliegenden Marktständen kommend, einen Weg zu uns bahnt. Holla, denke ich, wenn das mal nicht die Suppe ist. Vermutlich hat sie ein Marathonläufer direkt aus Piräus zu uns heraufgebracht und ist dann am Gemüsestand, mit den Worten: „Vorsicht, heiss!“, tot zusammengebrochen. Na, jedenfalls serviert die Wohlgenährte dann zügig ihr dampfendes Etwas und verschwindet umgehend in den undurchsichtigen Katakomben der Geschäftigkeit. Und in der Tat, da ist etwas, aber was? Es dampft, es riecht irgendwie neutral, es hat ungefähr die Farbe einer Mehlschwitze und die Konsistenz von Haferschleim. Wir sind leicht konsterniert. Ich bin ein Freund der Fischsuppen aller Art, aber mit einer solchen Grenzerfahrung habe ich hier definitiv nicht gerechnet. Geschmacklich passt sich dieses mysteriöse Gebräu des Hades seiner Optik an, ungefähr eine Mischung aus Methylan und Molto – Fill. Ich überlege, wo es hier im Gebäude einen Baumarkt gibt. Egal, wir wollen uns auf keinen Fall von derartigen Zwischenfällen den Spass verderben lassen, der Deutsche meckert sowieso schon viel zuviel, heisst es doch. Aber sowas? – meine Herr´n …
Glücklicherweise mundet der Fisch vorzüglich. Das stimmt positiv. Nebenbei reparieren wir noch ein paar Risse in der rückwärtigen Hallenwand, die ist jetzt wieder wie neu. Dann ziehen wir weiter.
Das Ziel ist Piräus, der Hafen Athens. Der Name hat irgendwie Klang. Piräus, Piräus, Piräus … Jedenfalls bei mir. Oh nein, Mist, da sind sie wieder, die Stimmen: „Ich bin ein Mädchen von Piräus, ich liebe den Hafen, die Schiffe und das Meer …“. Lale Anderson setzt gerade zum Refrain an („… ein Schiff wird kommen …“) da schmettert ihr die U- Bahn dazwischen. Ich reisse mich zusammen.
Ab der Mitte Athens fährt die Bahn nicht mehr im Tunnel. Lale singt auch nicht mehr. Gottseidank, man sollte seine Macken im Griff haben.
Draussen zieht die Stadt vorbei, mal hässlich , mal weniger. Ein grosses, relativ neues Fussballstadion, dass in seiner ganzen Mächtigkeit rechts auftaucht, passt da ganz gut rein. Viel Graffities auf dem Beton, Olympiakos Piräus lese ich. Wow! Apropos, nur weil heute scheinbar Mackentag ist, habe ich eigentlich schon erwähnt, dass eine weitere Macke von mir ist, mich immer vor auswärtigen Fussballstadien ablichten zu lassen, statt vor Kathedralen oder antiken Ruinen. Da müssten wir jetzt aber ganz schnell aussteigen. Nana ahnt meine Gedanken und schüttelt demonstrativ den Kopf – no no no, amigo! Dann halt nachher. Ich merke mir die Station: Neo Faliro. Lale singt wieder.
Draussen geht ein alter Mann mit weissen Haaren und weissem Bart schnellen Schrittes an einer Gruppe Frauen mit Kindern vorbei. Sieht ein bisschen aus, wie Käpt´n Iglo, fehlt nur die Mütze. Sollte vielleicht etwas weniger griesgrämig gucken, wegen der Kinder.
Wir erreichen die Endstation in einem historischen Bahnhofsgebäude gelegen. Von da aus ist es ein Katzensprung zum Fährhafen. Der ist so, wie Fährhäfen im allgemeinen sind, aufgemahlte Fahrspuren mit Pfeilen, Betriebsamkeit im ständigen Wechsel mit bleierner Wartezeit. Von hier aus kann man sozusagen in jeden noch so abgelegenen Winkel der Ägäis starten. Wir laufen ein wenig die Gegend ab. Irgendwie belanglos, keine Seefahrer – Romantik wie bei Lale. Schiffe kommen und gehen, das war´s. Ich bin enttäuscht.


Stavros stapft missmutig die runtergekommene Strasse entlang. Zur Olympiade war hier alles wie geleckt. Jetzt geht alles seinen neugriechischen Gang. Ab und zu kickt er einen Stein oder sonst irgendeinen Dreck vor sich her. Wie ein kleiner Junge. Ist er aber nicht. Schon lange nicht mehr. Er ist müde und unzufrieden, mit sich und der Welt. Dabei stellt sich noch nicht mal die Frage, mit wem am meisten. Mit sich wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, ziemlich sicher – Bingo! Hundert Punkte!
Er hätte den Job nicht annehmen sollen. Hätte, hätte, Fahradkette. Für die paar Kröten sich die Finger schmutzig machen, womöglich sich noch mit Poseidon anlegen, Scheisse. Die ganze Sache ging ihm dermassen gegen den Strich. Er ist Seefahrer von ganzem Herzen, verdammt, und er wird es immer bleiben, soviel Sentimentalität muss sein. Tatsache ist aber auch, er braucht das Geld, weil er eigentlich immer Geld braucht. Das Geld kommt und geht, sagt man allgemein. Bei ihm geht es nur.
Er biegt um die nächste Ecke, das Stadion von Olympiakos baut sich vor ihm auf. Viel Beton und Stahl, schmucklos, hässlich, er war lange nicht mehr drin, der Mist interessiert ihn nicht, nicht mehr, Kinderkram.
Eine U – Bahn rattert oberirdisch vorbei, steuert die Haltestelle Neo Faliro an, eine Gruppe junger Mütter schnattert lautstark am Rande einer runtergekommenen Parkanlage, Kleinkinder plärren. Er forciert seinen Schritt. Es sind noch ein paar lange, lästige Meter. Den Umweg sollte er sich allerdings nicht ersparen, es könnte sonst durchaus vorkommen, dass der ein oder andere ebenfalls missmutige Zeitgenosse ihm über den Weg läuft und nach dem Geld fragt, das er, Stavros, ihm noch schuldet. Und der Frager ist dann meist um Einiges jünger, kräftiger, skrupelloser. Also Risikominimierung ist angesagt. Seine Wohnung kennt glücklicherweise niemand, das gilt zumindest immer eine Zeit lang. Dann muss er halt wieder umziehen. „Same procedure as every year“ – so einfach ist das.
Das Rentenalter hat er sich früher eigentlich ganz anders vorgestellt, irgendwie ruhiger, entspannter. Mit dem Sohnemann fischen gehen im Saronischen Meer, ein Häuschen hier, oder auf dem Pelepones, die Frau ist auch dabei geblieben, Elenia, die Vöglein singen tirili tirila … Tja, so kann´s gehen, alles weg, vertrieben von dem Dämon, dem Untier, dass sich bei ihm eingenistet hat, ganz langsam, ohne aufzufallen, dass ihn verwandelt hat in etwas Unberechenbares, ohne Vertrauen in sich und andere, ohne Zukunft. Seitdem ist alles schwieriger geworden. Dabei wäre es, verdammt nochmal, nicht nötig gewesen! Hätte er nur … – hätte, hätte, Fahrraddings … – wie er diesen Spruch hasst. Genauso wie die Bitterkeit, die ihn plötzlich erfasst.
Er atmet schwer, keucht etwas. Die Treppe in den vierten Stock ist nicht sein Ding, war´s auch nicht, als er noch jünger war. Die Jahre sind so schnell vergangen, die Haare sind weisser geworden, der Bart länger, die Augen trüber  – welch eine abgenutzte, triviale Melodie in seinem Herzen klingt, Melancholie eines vermasselten Lebens. Heul doch! Nein, giess dir einen Metaxa ein. Das beisst, das kratzt, das hilft.
Er lehnt ein paar Sekunden mit dem Rücken an der Wohnungstür wie ein nasser Sack. Einst Kapitän zur See, jetzt nasser Sack, das nennt man eine steile Karriere. Bravo. Er hätte Poseidon gelegentlich mal ein Fischstäbchen als Opfer darbringen sollen. Nach dem zweiten Schnaps geht es wieder. Geht alles wieder. Ist alles okay, Herr Kapitän? Aye, aye, Sir!
Die defekte Jallousie taucht das Zimmer in ein ewiges Dämmerlicht. Das hat auch Vorteile. Vor allem im Sommer. Oder wenn man prinzipiell lichtscheu ist. Man kann sich dran gewöhnen. Der Aschenbecher vor dem abgeliebten Sofa ist voll, randvoll. Er gibt dem Klischee das nötige Aroma. Stavros sinkt auf den Diwan. Er muss dringend anrufen.
Oleg ist Bulgare, oder Rumäne, weiss der Geier. Kompakte körperliche Ausmasse, Ende vierzig, und er hinkt gewaltig. Arbeitsunfall auf irgendeinem Seelenverkäufer bei schwerer See. Kommt vor, hat die Dynamik seiner beruflichen Karriere nicht gerade angeschoben, wenn es da überhaupt jemals etwas anzuschieben gab. Aber das ist auch schon verdammt lange her. Auf Oleg kann man sich trotzdem verlassen, wenn er nicht zu stark betrunken ist. Und er braucht ebenfalls Geld. Sein grosser Trumpf, er kriegt so ziemlich alles zum Laufen was irgendeine Art von Dieselöl verbrennt. Frauen kriegt er auch zum Laufen, allerdings nur von ihm weg. Irgenwie verbindet sie das beide.
Oleg meldet sich gleich. Es ist früher Nachmittag, er ist nur mässig betrunken. Das Gespräch ist nicht allzu lange, es geht um die Details des Jobs, Höflichkeiten müssen keine mehr ausgetauscht werden, düstere Routine zweier Gestrandeter. Man verabredet sich für den nächsten Tag früh morgens, das ist der Samstag, irgendwo am südöstlichen Rand von Athen. Der Auftraggeber schickt einen Fahrer, wie beim letztem mal. Stavros meint, es wäre ein passender Tag zum Einparken, so nennen sie den Job, die See wird ruhig sein, der Himmel bedeckt, man wird sehen. Oleg ist das egal, er wird eh die meiste Zeit tief unter Deck sein.
Als nächstes ruft er Evangelistos an, ein entfernter Verwandter, der Sohn des Bruders seines Schwagers, oder so ähnlich, nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte, das muss er aber auch nicht, nicht für diesen Job. Er wohnt in irgendeinem Nest am Saronischen Golf, so Richtung Korinth, wo ein Grossteil ihrer gemeinsamen Verwandtschaft ansässig ist. Stavros hat sich dort seit langem nicht mehr blicken lassen, seit dem ganzen Theater vor gut 20 Jahren. Wohl besser so.
Evangelistos, um das Bild abzurunden, ist sozusagen das Gegenteil eines Gondoliere, der geräuchlos sein Boot durch sanfte Wellen gleiten lässt, nein, er durchfurcht in kühnem Ritt den arglos dösenden Ozean mit der Power seines jugendlichen Übermuts und verschiedener, hochgetunter Antriebsaggregate. Eine Leidenschaft, die ihn zu zweifelhafter, regionaler Berühmtheit verhalf, als er nämlich den alten Fischerkahn seines Grossvaters zu bisher unvorstellbaren Tempovorteilen beim Einbringen des Fischfangs verhelfen wollte, indem er dem betagten Holzboot drei in Serie geschaltete V8 Big - Blocks implantierte. Die Junfernfahrt, die mit grossem Trara angekündigt wurde und unter den Augen der kompletten Dorfprominenz zur Aufführung kam, ähnelte allerding in der Konsequenz doch sehr der Performance einer königlich – schwedischen Galleone namens Vasa, die im 17. Jahrhundert ihre Anker erstmals lichtete und eine spektakulär kurze Jungfernfahrt von 1300 Metern hinlegte, bevor sie sich auf die Seite legte und in der beschaulichen Welt der Stockholmer Schären versank. Das mag jetzt weit hergeholt klingen, aber in beiden Fällen lagen dem Desaster signifikante bauliche Mängel zu Grunde. Evangelistos, voll von ungebremstem Motorsport – Enthusiasmus, startete jedenfalls die Boliden, welche sogleich mit infernalischem Gebrüll die Kräfte einer Herde Bullen bei einer Stampede freisetzten, was wiederum zur Folge hatte, dass der Bug des alten Bootes sich fast senkrecht aus dem Wasser hob, während die wohl ungenügend fixierte Antriebswelle ihre Führung verlor und das Heck schredderte. Der Schiffsführer konnte sich mit einem kühnen Hechtsprung rechtzeitig in Sicherheit bringen, allerdings nicht vor den wütenden Schimpftiraden seines erheblich aufgebrachten Opas (Zitat: „Das ist der mit Abstand dümmste Enkel, den man sich nur vorstellen kann“). Die Jungfernfahrt des Projekts „Speedfishing“ endete also nach optimistisch geschätzten 20 – 30 Metern, was natürlich deutlich geringer ausfiel, als bei der Vasa, aber man sollte den enormen Grössenunterschied der beiden Wasserfahrzeuge (Vasa – 61m, 437 Mann, 56 Kanonen : Opas Boot – 6m, 1 Mann, 1 Schrotflinte) dabei in Relation stellen. Neben dem Grossvater zeigte sich auch der Vorsitzende der örtlichen Fischereigenossenschaft „not amused“, lag doch das Wrack nunmehr im Fahrwasser der idyllischen Hafenanlage. Trotz all des angehäuften Unbills liessen sich die bestens unterhaltenen Dorfbewohner nicht davon abhalten, ein spontanes Volksfest auszurufen, was bis heute als „Speedfishing – Day“ aus dem kulturellen Leben des Ortes nicht mehr wegzudenken ist.
Stavros streckt sich auf dem Sofa aus. Es ist alles vorbereitet für morgen. Die Nacht war lang, endlich Zeit sich auszuruhen. Er hat diesmal nicht so viel verloren beim Zocken, eigentlich fast gar nichts. Aber auch nichts gewonnen. Und dafür eine ganze Nacht verbraten? Kein wirklich gutes Geschäftsmodell, das war es sowieso nie, nein, einfach Leidenschaft, ein Zwang vielleicht, ein klitzekleiner. Andere sagen Sucht. Damals, vor gut 20 Jahren, als alles aus dem Ruder lief, als er noch Familie hatte, Freunde hatte, da haben sie ihm gesagt, er solle sich helfen lassen, das wäre doch keine Schande. Pfff, sich helfen lassen, er? Wegen was, bitte! Vergiss es!
Okay es war ein Fehler, vielleicht eine Wette zuviel, der Einsatz zu hoch, aber die anderen haben immer leicht reden. Er war derjenige, der das Gesicht verloren hätte. Auch egal, hat er letztendlich dann sowieso.
Davor lief alles nach Plan. Er hatte sein Kapitänspatent endlich erworben nach vielen Mühen und noch mehr Seemeilen. Das war sein Traum, der Boss auf der Brücke. Die Verantwortung hatte viel Platz auf seinen breiten Schultern. Die Pötte wurden Grösser, die Reisen länger, Südafrika, Südamerika, Asien… Und er konnte Elenia endlich was bieten, eine Existenz, ein Zuhause, Familie. Sie war bereit, das alles mitzugehen, auch das lange Warten einer Seemannsbraut. Dann kam auch noch Ioannis zur Welt. Ein Glück, ein bisher unerreichtes Glück. Damals.
Aber auch da ging schon viel Kohle für die Zockerei drauf, so nebenbei, ganz unauffällig, da kann er sich im Nachhinein nichts vormachen.
Es war im November 2001, die Twin – Towers in New York waren kürzlich erst umgelegt worden, die Menschheit erlebte somit eine neue Dimension menschlichen Irrsinns, das Massaker als mediales Grossereignis, Live und in Farbe, nicht mehr nur als heimliches Gemetzel, wie es tagtäglich überall auf der Welt passiert, da entschloss sich Stavros, auch die Grenzen zu versetzen, wenn auch nur die eigenen an einem ganz gewöhnlichen Spieltisch im Hinterzimmer einer lausigen Bar in Piräus.
In den frühen Morgenstundens lag ein geradezu gigantischer Einsatz auf dem Pokertisch, ein Einsatz der sich nicht nur in den verquollenen Augen der Mitspieler spiegelte, nein, der offenbar auch jegliche verstandsmässige Sicherung zu überbrücken vermochte. Zumindest bei Einem.
Stavros ging „All In“. Auf Nachfrage der Kumpane, mit was er denn dieses Bestreben monetär absichern könne, konterte er mit einem überraschenden Wettangebot, eine Taktik, die bei pathologischen Spielern durchaus auf Gegenliebe stossen kann. Allerdings muss das Angebot auch einen entsprechenden Gegenwert darstellen, und der war in dem Fall nicht ohne.
Einerseits mag der nicht unbeträchtliche Alkoholkonsum, andererseits der unbedingte Siegeswillen des Spielers in Betracht zu ziehen sein, sucht man nach den Ursachen, die seinen Verstand so umfassend zu vernebeln vermochten, Stavros jedenfalls offerierte seine „Isthmus von Korinth“ – Wette.
Nach kurzer Diskussion wurde diese angenommen und die Karten ein letztes Mal gegeben. Oft entdeckt in solchen Situationen das Schicksal seinen Sinn für Ironie, aber mal ganz ehrlich, doch eigentlich nur in zweitklassischen Spielfilmen oder Groschenromanen. Jedenfalls zeigten sich die Karten ziemlich humorlos und verhalfen einem reichlich betrunkenen Gastwirt aus dem Hafenviertel zu einem fünfstelligen Betrag im oberen Bereich. Und da stand ja noch eine offene Wette im Raum.
So fuhren an jenem sinnentleerten Herbstmorgen sechs johlende Trunkenbolde an irgendeine abgelegene Mole im Industriebereich westlich von Piräus, um einen von ihnen zur Begleichung der Ehrenschuld zu verabschieden. Sie bildeten ein Spalier und salutierten schwankend.
Viele Details der einstigen Geschehnisse sollten in der später erfolgten juristischen Aufarbeitung im Verborgenen bleiben, doch eines war gewiss, Stavros stach in See. Das Gefährt war ihm vertraut, wie auch die Flagge, unter dem es fuhr, knapp 2000 Bruttoregistertonnen, stückgut – und containertauglich, ein Kinderspiel für ihn.
Die Wette, die allem zu Grunde lag, beinhaltete im Kern die Passage jenes eindrucksvollen Kanals, der die Landenge von Korinth durchschneidet, mit einem recht stattlichen Schiff, welches jetzt nicht unbedingt als nautischer Geniestreich zu bezeichnen wäre, hätte Stavros nicht die verschärfende Bedingung „rückwärts“ eingebaut.
Wie gesagt, vieles blieb in jener Nacht nebulös, vor allem, wie man auf so eine bescheuerte Idee kommen kann, unbehelligt in einen stark kontrollierten Wasserweg einfahren zu wollen, der nur 26 Meter breit ist und in dem die grösseren Schiffe durchgeschleppt werden müssen. Es wird wohl für immer ein Mysterium bleiben, was ja für diese Gegend ein durchaus ortstypisches Phänomen darzustellen scheint.
Der weitere Verlauf der Ereignisse folgte eher den Gesetzen irdischer Logik, bzw. Slapstik. Während Stavros unter Volldampf Richtung Isthmus schiffte, schlugen die Kumpane selbigen Weg per Kraftfahrzeug ein, um die Einlösung der Wette entsprechend zu begutachten. Sei es das dämmrige Licht des grauenden Morgens, sei es der ebenso dämmrige Zustand des Fahrzeugführers gewesen, das Unterfangen der Kontrollöre kam noch vor Erreichen der Schnellstrasse zum Erliegen, unvollendet, in einem sumpfigen Graben hinter einem Schweinemastbetrieb.
Wie so manche Symphonie eines klassischen Meisters unvollendet blieb, so schien auch dieses feinsinnige Meisterwerk menschlicher Idiotie nicht zu einem Finale Glorioso geführt werden zu können. Dennoch versetzen die bereits erklungenen Akkorde den Zuhörer in diese erwartungsvolle Spannung: was wäre wenn? – oder auch nicht.
Während also die Kollegen mit blutigen Nasen und blauen Flecken sich auf den Weg zur nächsten Taverne machten, muss unser Wett – Protagonist kurz hinter Piräus wohl eingeschlafen und erst wieder aufgewacht sein, als sich die knapp 2000 Bruttoregistertonnen mit dem ersten Sonnenstrahl in die Strandbar des Paralia – Beach – Clubs an Salaminas Ostküste bohrten. Angesichts der Enge der Bucht eine rein fahrtechnisch bemerkenswerte Leistung. Noch bemerkenswerter und seemännisch einwandfrei war auch die Tatsache, dass der alleinfahrende Kapitän das Schiff als Letzter verliess, um sich in der zwar stark demolierten, aber somit auch geöffneten Gaststätte ein dem Anlass angemessenes Getränk zu genehmigen.
Wie der geneigte Leser sich unschwer vorstellen kann, erreichten die nachfolgenden Unannehmlichkeiten ein von Stavros bisher nicht gekanntes Level. Aber es waren beileibe nicht die Prozesse, die Regressforderungen, die Haftstrafen und Therapien, die ihn letztlich brachen, auch nicht der Verlust des Kapitänspatentes, nein, es war einzig und allein das Ende seiner Liebe, seiner  Familie. Elenia zog mit Ioannis zurück zu ihren Eltern, oben bei Thessaloniki, und reichte die Scheidung ein. Für ihn so verständlich, wie schmerzlich. Und er hatte überhaupt keine Trümpfe mehr, weder auf der Hand, noch im Ärmel.
Immer, wenn es wieder rausgeht, kommen diese schmerzlichen Erinnerungen zurück. Warum? Er kann nichts mehr ändern. Er kann es nicht abstellen. Die Müdigkeit überfällt ihn wie ein Narkotikum. Im Hof beschimpft ein kleiner Rotzlöffel seine Mutter, die ihn zum Essen ruft, und kassiert eine wohl verdiente Ohrfeige.
„Es wird meine letzte Fahrt sein, ja, die letzte …“, murmelt er in seinen weissen Bart und schläft ein.
Aber das sagt er ja jedesmal.


Wir überqueren eine geschäftige Hauptstrasse, es stinkt, es lärmt, es ist später Feierabendverkehr. Ich nöle ein wenig vor mich hin. Meine Füsse kommen mir breiter und platter vor, als heute Morgen. Ich finde Athen doof, Piräus auch. Nana beachtet mich nicht. Sie sieht wieder Sachen, die ich nicht sehe. Und die müssen fotografiert werden, unbedingt. Es ist Tragik und Segen unserer Beziehung zugleich. Mir fällt auch keine Macke mehr ein, die ich ausleben könnte, ich will heim.
Nana erhört mein Flehen endlich, auch sie sieht ein wenig abgeschafft aus. Wir beschliessen, der mystischen Beschaulichkeit unseres Feriendomizils eine weitere Chance zu geben: Eleusis nimm uns wieder in deine langweiligen Arme!
Die Rückfahrt erscheint endlos. Es ist voll, es ist stickig, Rush – Hour ist nirgendwo auf der Welt ein Genuss. Wenigstens surrt der Triebwagen unbeeindruckt von irgendwelchen Befindlichkeiten der Abendsonne entgegen.
Mir fällt auf, dass es seit heute Mittag nicht mehr geregnet hat. Es ist ungewöhnlich mild. Nana wirft ihre Sachen (Kameraausrüstung) im Appartment ab und wir begeben uns umgehend in das Zentrum der Unaufgeregtheit. Ja, Eleusis, du hässlichstes aller hässlichen Entlein, auf dich ist Verlass, bei dir lässt sich selbst die Vergessenheit vergessen. Eine schwanzlose Katze überquert die Fussgängerzone, ein kleinhubiges Moped jault in einer Seitengasse, die Götter haben bereits den Schlafanzug an. Es ist Freitagabend und nichts ist los.
Das Italo – Imitat hat selbstverständlich wieder den meisten Andrang, überwiegend junge Leute. Wir erhöhen kurzerhand den Altersdurchschnitt und setzen uns dazu. Tiefe Zufriedenheit liegt über dem Ort. Vielleicht liegt es ja auch nur an dem Mysterium, das da hinter dem Zaun schlummert, wie ein verwunschener Märchenwald (waber, waber). Wer weiss …
Nana plappert über dies und das, launige Geschichten aus ihrem ganz speziellen Kosmos. Sie sieht inspiriert aus. Und unverschämt gut. Ich plaudere mit, erzähle ihr, ich hätte heute Nachmittag Käpt´n Iglo gesehen, der wohnt wohl irgendwo in Piräus. Wir lachen. So geht es noch eine ganze Weile hin und her, ich singe Fragmente von „Griechischer Wein“ und „Ein Schiff wird kommen“ vor. Der Kellner lächelt gezwungen.
Wir sind wieder mal die Letzten, die zahlen. Auf dem Weg zum Taxi fällt mir mein kleiner Stein vom Mysterium wieder ein. Wo, verdammt, ist der denn eigentlich?

Die schwanzlose Katze hat eine Fledermaus erwischt.
Das Mysterium von Eleusis – Kapitel 6 – Ein Schiff wird kommen
„Hurra, er ist da!“ – ein markerschütternder Jubelschrei schreckt die touristische Unterkunft am alleräussersten Rande des Mysteriums auf. Die zotteligen Hunde am Eingang des Hospitals heben verwundert die Köpfe, dösen aber mangels instinktbetreffender Info sogleich weiter. Nana reibt sich irritiert die Augen. Ich hüpfe von einem Bein auf´s andere. Ja, er ist da, der Stein, der die neue Religion gründen soll, der Stein der Weisen, oder des Anstosses, Gallenstein des Zeus, Weinstein des … – was auch immer, er ist da! Hurra!
Ich hatte gestern nach unserer Rückkehr aus der Kneipe noch gesucht. Erfolglos. Aber heute Morgen dann der entscheidende Durchbruch: die kleine Tasche in der anderen Hose, wo sonst ein Plektrum oder ein Fahrradschlüssel steckt. Nana wirkt verstimmt, ich könne wenigstens mal Kaffee kochen. Den „Spinner“, den sie noch anhängt, verzeihe ich ihr. Heute verzeihe ich alles.
„Erinnere dich, mein Augenstern, die friedvolle Stimmung im Ort am Zaun des Mysteriums. Wenn über Jahrhunderte kultische Handlungen und Beschwörungen dort stattgefunden haben, muss doch etwas hängengeblieben sein, quasi in den Boden gesickert, oder in die Steine gedrungen, feinste Partikel eines mystischen Nebels …“, hebe ich zu einem spekulativen Höhenflug an.
Nana rekelt sich im Bett und grunzt missmutig.
„Sag´mal, kann es vielleicht sein, dass in diesem Vorort von Athen ganz einfach nichts los ist, tote Hose statt mystischer Nebel“ , gibt sie etwas unterkühlt zu bedenken, „und wäre es jetzt nicht an der Zeit, diesen Tempel hier mit einem geradezu mystischen Kaffeeduft zu befüllen.“
Es ist immer schwierig, Menschen die auf einer völlig anderen geistigen Arbeitsebene eingeloggt sind, mit den möglicherweise innovativen Quantensprüngen des eigenen Genius vertraut zu machen. Da ist in jeder Hinsicht Geduld gefragt.
„Sicher, sicher, da gebe ich dir völlig recht, hier ist wahrhaft nichts los, aber das lässt sich nicht nur einfach mit den infrastrukturellen Problemen einer Vorstadt erklären. Wie wir wissen, hat hier mal spirituell dermassen der Bär gesteppt. Und, soweit ich mich erinnern kann, wurden immer wieder im Umfeld verschiedenster historischer Heiligtümer unerklärliche metaphysische Phänomene registriert, die bis heute wissenschaftlich unerklärbar scheinen.“ – 
„Aha, und wo bitte?“ –
„Äh, ja …“, da hat sie mich wohl argumentativ auf dem unvorbereiteten Fuss erwischt.
„Ach so, du meinst sicher sowas, ich hab´mal gelesen, dass, wenn man die Kölner Domplatte überquert, plötzlich ein Lied von den Höhnern auswendig kann: die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst, tschingterassabum …“, nimmt sie den Faden wieder auf.
Haha, was haben wir gelacht. Sie findet sich gerade unglaublich witzig, die Ulknudel.
Komm, gib dir Mühe, stachele ich mich selbst an, dir wird doch wohl noch irgend so ein blöder Hokuspokus einfallen, den du irgendwo mal gelesen hast.
„Um in der Gegend zu bleiben, nehmen wir zum Beispiel das „Tor zur Hölle“ im römischen Heiligtum von Hierapolis“, beginne ich wieder mit neuem Elan, „es ist überliefert, dass Opfertiere, die es durchschritten, wie von Geisterhand starben, nicht aber die sie begleitenden Priester“.
„Ach, davon hab´ ich mal gehört“, kontert sie vorlaut, „das ist aber längst nicht mehr unerklärlich, das hat mit Gaskonzentrationen in Bodennähe zu tun. Wenn der Priester beispielsweise mit seinem Dackel da reingegangen ist, hat es den Dackel stante pede umgehauen, den Priester aber nicht, klar. Wenn wir beide da reinmarschiert wären, wäre gar nichts passiert, ausser ich hätte dich gebeten, mir die Füsse zu küssen, mein antiker Heroe.“
Sie kichert sich wieder einen ab. Unerträglich, diese Frau. Offenbar geht bei mir mit dem Verzeihen heute doch wesentlich weniger.
Ich denke an Stonehenge, oder die Moai – Figuren auf den Osterinseln, oder die rätselhaften, riesigen Bodenzeichnungen in Mexico, aber da ist bei mir die Kenntnislage zu dünn, um damit ins Rennen zu gehen. Sie sieht mir meine scheinbar verzweifelten Bemühungen um mystische Deutungshoheit an, und grätscht nochmal boshaft dazwischen, bevor mir vielleicht doch noch was stichhaltiges einfällt:
„Jetzt hab´ ich was für dich, die Lorelei, ein handfestes deutsches Mysterium. Sass da nicht damals, in grauester Vorzeit, eine Frau, wahrscheinlich sogar blondgelockte Jungfrau, auf einem Felsen am Rhein und sang gar lieblich in die Dämmerung hinein, was zu panikartigen Tumulten bei den zufällig vorbeifahrenden Schiffern führte und sie freiwillig ihre Boote versenkten. Frei interpretiert.“
Sie fängt an zu singen:
„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin.
Ein Märchen aus uralten Zeiten
das kommt mir nicht aus dem Sinn …“
Offenbar bestens gelaunt, begibt sie sich, nein, schwebt vom Bett ins Badezimmer. Man kann das unverschämte Gegickel immer noch durch die geschlossene Tür hören. Ich gebe zu, ich bin dann irgendwann ein bisschen beleidigt, will es aber keinesfalls zeigen, und setze erstmal missmutig den Kaffee auf. Die Dusche rauscht, Lorelei singt. Ich nehme mein Buch und setze mich nach draussen. Wenigstens zeigt sich das Klima von seiner ungehässigen Seite. Ansonsten, der Autobahnzubringer bleibt akustisch monoton, einige Krähen umkreisen das Krankenhaus, die Hunde verdösen konsequent ihre Lebenszeit. Es ist ein weitgehend mystikloser Samstagvormittag in Eleusis.
Nana erscheint kurz bei mir und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dann entschwindet sie in die Küche, greift sich einen Kaffee und kündigt eine kosmetische Rundum – Aufbereitung ihres Alabasterkörpers an. Das kann dauern. Meine leichte Verstimmung wird ignoriert. Eigentlich ist sie schon mittel, nein, so mittelschwer, würde ich sagen.
Nach der Kosmetik begeben wir uns in die Ortschaft zwecks Besuch eines Kaffeehauses und Tätigung diverser Einkäufe. Sie sieht natürlich wieder umwerfend aus, das sage ich aber diesmal nicht. Ich bin eher kurz angebunden. Sie macht einige Vorschläge zur weiteren Gestaltung des angebrochenen Urlaubstages. Ich grummle widerwillig in mich hinein. Das geht natürlich nicht auf Dauer, ich weiss das, sie weiss das. Meiner Meinung nach, wäre es natürlich schön und dem Grad meines Bleidigtseins angemessen, sie würde z.B. einfach auf die Knie gehen und inständig um Verzeihung bitten für ihr kindisches, unsensibles Getue, dann könnte ich es mir ja nochmal überlegen …
NEIN! SIE WIRD DOCH WOHL NICHT!?!
„Geliebter, bitte, bitte, bitte verzeih mir!“ –
Nana kniet vor mir und greift mit sehr, sehr, sehr verzweifeltem Gesichtsausdruck nach meiner Hand.
„Es ist mir ein totales Rätsel, wie das geschehen konnte, wie ich so ein kindisches und unsensibles Getue an den Tag legen konnte, es ist mir sooo unendlich unangenehm, ich schäme mich, ja, ich wollte dich nie, nie, niemals verletzen, mein Liebling, mein Schatz, mein Held. Was kann ich tun?“ –
Mir ist fast die Tasse aus der Hand gefallen. Die übrigen Gäste schauen teils erstaunt, teils amüsiert zu uns herüber, obwohl sie wahrscheinlich keinen Ton verstehen. Glücklicherweise.
„Gib unserer Liebe noch eine Chance, bitte, nur eine letzte Chance, sie hat es verdient“, schmachtet sie mich an.
Nicht schlecht. Der Groll bröckelt. Ihr Kopf liegt auf meinem Schoss, eine Träne läuft ihre Wange hinab (Respekt, wie hat sie das nur hingekriegt?).
Moral – Puristen werden jetzt natürlich rummäkeln, das hier offensichtlich eine Schmierenkommödie vom Feinsten abgezogen wird, ein weibliches Intrigenspiel, bei dem nicht ein Hauch von echter Reue zu spüren ist. Ja, ich weiss das, aber was soll ich machen, bei mir wirkt sowas. Ausserdem muss ich sofort lachen. Nicht zuletzt sollte auch die schauspielerische Leistung eine angemessene Würdigung finden, da fühle ich mich ganz der Kunst verpflichtet.
Ich gebe mich etwas verlegen und bitte sie, wieder Platz zu nehmen. Sie rückt ihren Stuhl ganz eng neben meinen und umarmt mich fest. Eine Kellnerin ist ganz gerührt. Mein Kopf ist ganz heiss. Fehlt nur noch, dass jetzt im Lokal Applaus aufbrandet, das wäre mir dann doch einen Ticken zuviel.
Beseelt von der Wiedererlangung eines tragfähigen Konsenses in unserer Beziehung, beschwingt von unserer neu entflammten Liebe und in der Hoffnung auf baldigen Weltfrieden, verlassen wir das Café. Hand in Hand erledigen wir unsere Einkäufe. Unentwegt zwitschern Vöglein und zwei Stehgeiger begleiten uns den ganzen Weg nach Hause. Auch im Taxi, – natürlich sitzend.
Manchmal, nach überstandenem Disput, kommt es sogar anschliessend zu sogenanntem Versöhnungssex. Dann geben wir beide alles, um es dem Anderen so richtig ... – äh, das ist jetzt zu ...  – sagen wir, ich bin verhalten erwartungsfroh.
Um es vorweg zu nehmen, es kommt dann doch nicht zu besagter erotischer Übereinkunft. Zurück in unserem Etablissement, ich will gerade in der Küche zwei aphrodisierende Longdrinks mixen, da ereilt mich ein spitzer Schrei aus dem angrenzenden Schlafgemach. Statt auf eine sich lasziv rekelnde Angebetete, stosse ich auf eine komplett bekleidete Zerknirschte. Verzweifelt deutet sie auf ihre sündhaft teure optische Wundermaschine:
„Der Scheiss – Akku ist schon wieder leer, das kann doch nicht wahr sein, ich kann noch nicht mal mehr die Scheiss – Bilder aufräumen, so ein Scheiss – Teil, verdammtes ...“ –
Wie der Leser an der Wortwahl unschwer erkennen kann, haben sich die Rahmenbedingungen für ein zärtliches Tete á Tete ungünstig verschoben. Ich biete selbstverständlich meine tröstende Schulter an.
Nach kurzem Hin – und Herüberlegen gibt sie den Beschluss bekannt, sie werde jetzt unverzüglich zum Elektronikmarkt nach Athen fahren, den Akku aufladen lassen, letzte Gelegenheit, morgen ist schliesslich Sonntag. Zumal wir da ein Treffen mit einer Freundin verabredet haben, welche in Athen Zwischenstation macht. BAM! Schon wieder einer dieser Jet – Set – Momente auf internationalem Terrain (siehe Kapitel 1, Zagreb). Man könnte schon fast von Gewohnheit sprechen. Aber keine Frage, da muss die Kamera wieder laufen.
Die ganze Aktion dauere  ca. 3 – 4 Stunden, ich könne mitkommen, oder eben wieder mal der Quality – Free – Time fröhnen. Mir ist das zu hektisch, ich fröhne also lieber. Und ich werde mich nach einem Restaurant umgucken, wo wir zu Abend essen können, verspreche ich.
Desweiteren sind Steinstudien angesagt. Dringend. Viele Fragen sind ja noch ungeklärt. Welchen Einfluss hat der mystische Stein in meiner Hosentasche auf mein Handeln, auf die Umwelt, das ganze Universum? Sollte er Links – oder Rechtsträger sein? War Nanas Entschuldigung vorhin womöglich eine direkte Wirkung? Oder wirkt er auch, ohne dass ich ihn mitführe, auf irgendwas und/oder überhaupt? Und wie kriege ich das eigentlich raus? Das klingt auf jeden Fall spannend.
Nachdem ich eine Zeit lang gelegen habe und verschiedene Gedankensträngen nachgegangen bin, erwacht in mir ein enthusiastischer Forschungsdrang, vergleichbar in etwa mit dem eines Dr. Emmett Brown (Zurück in die Zukunft), Erfinder des Fluxkompensator.
Dann fällt mir noch etwas anderes ein. Da gibt es doch diese ominösen Schiffswracks. Ein weiteres unbestelltes Feld auf meinen intellektuellen Ländereien.
„Es gibt viel zu tun, Dr. Brown.“ – 
Ich verlasse das Haus am Nachmittag des 22. April. Die Sonne drückt sich unaufhaltsam dem westlichen Horizont entgegen, es weht eine unauffällige Brise.


Die Palomino Express ist ein Denkmal der Melancholie, wie sie dort gottverlassen und lieblos festgezurrt an der Mole hängt. Ein Seelenverkäufer, dem die Seelen vor langer Zeit schon abhanden gekommen scheinen. Stattdessen Rost, und stählerne Agonie. Ja, der Lack ist ab. Wo würde diese Metapher besser passen? Stavros kennt diese Art von Pötten zu genau, ist er doch auf einigen selbst gefahren. Kleine Frachter, kaum mehr als 80 Meter lang, wo man lieber den Wetterbericht vor jeder Ausfahrt zweimal liesst, um nicht unverhofft in ganz schwere See zu geraten. Sie fahren noch zu Tausenden ächzend in der Ägäis rauf und runter, bringen was gebraucht wird, holen was weg muss, vom Brühwürfel bis zum Traktorreifen, von Handgranaten bis zu Babywindeln.
Dann werden wir es heute nochmal versuchen, altes Mädchen, denkt er. Und es wird kein leichter Weg ...  – für uns beide.
Sie haben sich heute vormittag getroffen, nicht in aller Frühe, aber früh genug für den Job und spät genug für Trunkenbolde: er, Oleg und Spiri. Spiri (keiner weiss, ob er wirklich so heisst) hat auf sie nahe einer U – Bahnstation gewartet, irgendwo auf der Strecke zum Flughafen. Ein hagerer, mittelgrosser Typ mit furchigem Gesicht, das wenig Vertrauen zu vermitteln vermag, und auch kaum Auskunft über sein Alter gibt. Auf eine Frisur verzichtet er gleich ganz, dafür zeigt er zwei eindrucksvolle Ohren, zwischen denen eine Art abgenutzte Baskenmütze auf dem kahlen Schädel thront. Stavros schätzt in auf Anfang 50, vermutlich ist er um Einiges jünger. Sie haben sich knapp gegrüsst und sein Auto bestiegen, einen alten Toyota – Kleinbus mit zerschlissenen Sitzbänken drin, so wie sie von diesen Drückerkolonnen benutzt werden, um ihre Verkäufer in irgendeinem Stadtviertel auf die geistig weniger bemittelten Bewohner loszulassen. Wahrscheinlich macht Spiri genau das in seinem sonstigen Leben.
Die Fahrt hat sich gezogen. Sie haben in einer freudlosen Cafeteria etwas gegessen und sind dann schnell weiter, über Landstrassen Richtung Osten, Stavros hat den Namen des Zielortes schnell vergessen, es ist eh egal, er wird die Navigation später seinem Handy überlassen. Irgendwann um die Mittagszeit sind sie angekommen, ein stillgelegter Industriekomplex mit niedrigen, überwachsenen Betongebäuden hinter verbogenen Gitterzäunen.
Warum lassen sie die alte Dame nicht einfach da stehen, wo sie ist, denkt er. Niemand kümmert das in diesem Land, normalerweise. Offenbar diesmal doch. Vielleicht plant hier so ein fetter Baulöwe ein neues Luxus – Freizeitressort, nicht weit von Athen, aber trotzdem weit genug, dass der Businessman hier mal ganz entspannt und zwischendurch sein Wohlverdientes verbraten kann, wahlweise mit, oder auch ohne Familie. Ein Puff wäre selbstverständlich diskret um die Ecke – ist anzunehmen. Wir werden es vermutlich nie erfahren. Er spuckt aus und balanciert über eine wackelige Planke auf sein Schiff.
Was folgt ist die langweilige Routine früherer Tage. Inspizieren, Wasser rauspumpen, Ruderanlage checken, Maschine anwerfen, usw. Oleg ist sofort in seinem Element. Erstaunlich wie der Krüppel aufleben kann, ein neuer Mensch mit fast schon kindliche Begeisterung, die aus ihm heraussprudelt. Stavros muss grinsen, das erste mal heute, das erste mal seit Tagen, Wochen.
Sie verlassen den Ankerplatz am späten Nachmittag. Es hat dann doch länger gedauert, es sind einige Schraubenschlüssel geflogen, die Flüche des Balkan sind rauh, aber herzlich. Aber der Kahn läuft. Ein schwarzer, giftiger Schwerölnebel wabert aus dem Schlot. Spiri hat die Leinen losgemacht, Oleg hat sie eingezogen. Es braucht wahrlich keine Schar indonesischer Leichtmatrosen um dieses stinkende Etwas auf´s Meer zu schieben, nein, 2 Mann und zusammen fast 75 Jahre christliche Seefahrt reichen da völlig. Und ein zwei Flaschen …
Am Heck flattert die Fahne Liberias. Spiri hat sie ihm kurz vor Abfahrt in die Hand gedrückt, die Reederei wäre da beheimatet. Stavros hat gelacht. Das Schiff gehört also einem Briefkasten in Monrovia, der älteste Matrosenwitz ohne Pointe.
Wenn´s gut geht, brauchen sie zweieinhalb Stunden.


Während ich wiedermal im Taxi sitze, versuche ich auszurechnen, wie oft ich diese Strecke eigentlich schon gefahren bin, Hospital – City, City – Hospital. Bevor ich ein Ergebnis bekomme, sind wir schon da, Eleusis – City, klickerdiklack, 6 Euro, danke sehr. Eine Zahl gegen unendlich? So ungefähr, sei´s drum, die Strecke dürfte sich eh auf meiner Festplatte unlöschbar eingebrannt haben.
Laut meiner Vororientierung befindet sich das Ziel in überschauhbarer Entfernung, gut zwei Kilometer nach Osten in zivilisatorisch erschlossenem Gebiet mit ausgedünnter Bebauung, ähnlich wie bei unserem Appartement. Es ist kaum jemand auf der Strasse unterwegs.
Etwas Bewegung würde mir gut tun. Wie immer ist meine Expeditionausstattung mässig belastbar (dandyhaftes Schuhwerk, Hawaihemd), dafür die Motivation weit über „Volldampf Voraus“. Ich passiere einen Lidl – Markt, der mit günstigen Weinangeboten lockt. Meine Fokussierung bleibt stabil. Linker Hand hinter einer Anhöhe müsste das Meer liegen. Ich bin versucht, zur optischen Orientierung da hinauf zu steigen, scheue aber aus gutem Grund das unwegsame Gelände. Nein, ich nehme weiter die Strasse. An einer Tankstelle biege ich rechts ab. Die Fahrbahn ist grau vom Zementstaub. Ein schwerer Kipper dröhnt an mir vorbei, ein zotteliger Köter bellt wütend aus seinem Vorgarten zu mir rüber. Die Gegend wirkt runtergekommen und düster. Ich reibe den Stein in meiner Hosentasche nervös zwischen Daumen und Zeigefinger. Mir kommen Zweifel ob meines Vorhabens.
Doch dann tut sich der Himmel auf, ein Chor von Schalmeien jubiliert, eine wohlige Gänsehaut überzieht meine Extremitäten, ich bin da! Tatsächlich! Hinter einem Stück Brachland von Planierraupen zerfurcht und Erdaushubhügeln durchsetzt, liegt das, unter zahlreichen Entbehrungen (Lidl Weinangebot) einer kräftezehrenden Expedition, endlich erreichte, gelobte Land, also, dieser sagenhafte Schrotthaufen, sozusagen der heilige Gral der Metalloxidation.
Vor mir liegen ein paar unterschiedlich grosse Frachter, Fischkutter, Barkassen im flachen Wasser einer kleinen Bucht, krumm und schepp aneinander gelehnt, teilweise schon mit Heck oder Bug unter Wasser, ein paar kleinere Boote liegen ganz an Land, eine Art Schwimm – Ponton nur halb. Rechts davon, am Ende einer ca. 1 km langen Kaimauer hängt ein grosses Fährschiff in den Seilen, so erbärmlich schief, dass nicht eine Tasse mehr auf seinen Tischen stehen bleiben würde.
Wahnsinn, welch fabelhafte Komposition des Untergangs. Es ist dazu auch noch die blaue Stunde, das Feinste vom Feinsten was die natürliche Beleuchtung herzugeben in der Lage ist. Nana würde vor Begeisterung fast die Besinnung verlieren. Ich hüpfe von Schiff zu Schiff, Motiv zu Motiv, stosse brünstige Schreie aus und mache eine Million Bilder, grob geschätzt.
Ich finde, zum Abschluss meiner äusserst erfolgreichen Exkursion sollte ich noch ein Selfie machen. Am besten mit den fettesten Schiffwracks im Hintergrund. Und so mit einer siegermässigen Geste davor, sowas überzogenen triumphales, männlich eitel, Mr. Bombastic … Das ultimative Top – Foto in der Top – Kulisse.
Ja, ich weiss, das klingt unter Umständen ein klitzekleines bisschen konkurrent Nana gegenüber, und das ist es ehrlich gesagt auch. Aber ich bitte nachdrücklichst um Verständnis! Immer findet sie die besten Motive zuerst, immer macht sie diese wunderbaren Aufnahmen, immer lösche ich nachträglich meine jämmerlichen Equivalente vom Handy. Nein, das muss nun ein Ende haben, mit diesem einen Bild, der preisgekrönten Number One der diesjährigen World – Foto – Awards, oder so ungefähr.
Ich gebe mich hochprofessionell, bilde kleine Kästchen mit dem Fingern, durch die ich schaue, um den Motivausschnitt zu bestimmen, wechsle die Positionen, knie dabei, lege mich auf den Boden. Nachträglich bin ich etwas froh, dass mich niemand dabei beobachtet hat. Hoffe ich zumindest. Dann suche ich einen stabilen Standort für mein Smart – Phone zwischen einer verwitterten Holzbohle und einem rostigen Farbeimer. Perfekt!
Meine Position wird direkt am flachen Ufer sein, ich habe sie mit einem Kreuz im Sand markiert. Jetzt nur noch die Selbstauslösefunktion einstellen, 10 Sekunden müssten reichen, hinzurennen, die gewünschte Haltung einzunehmen und dann einen kurzen Moment still zu stehen für den Triumpf. Ich atme tief ein und wieder aus. Einstellen, hinrennen – und los! Der Sand spritzt unter meinen kräftigen, ausladenden Schritten nur so weg, der Standpunkt ist in Rekordzeit erreicht, ich balle meine Hände gerade in Siegerpose über dem Kopf zusammen, da registriere ich im Augenwinkel links eine Bewegung, drehe mich hin und erstarre.
Die Silhouette eines Schiffes hebt sich dunkel vom weichen Licht des Hintergrundes ab. Es ist die Frontansicht, ich kann die Grösse kaum abschätzen, nur soviel, es ist definitiv keine Hafenbarkasse. Und sie wird grösser, bewegt sich sozusagen direkt auf mich zu, 300, vielleicht 200 Meter entfernt. Eine dicke schwarze Rauchfahne zieht nach oben ab. Instinktiv bewege ich mich rückwärts ein paar Schritte von der Wasserkante weg. Ach, du schöne Scheisse, was soll das denn werden? Wenn der an die Mole da rechts draussen will, hat er aber einen gewaltigen Knick im Kompass.
„ … ein Schiff wird kommen …“ – Lale, AUS!!! – das ist sowas von der falsche Moment. Klar, irgendwie passt es auch, aber ich kann das jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ich renne noch 20 Meter weiter weg. Tatsächlich, der fährt weiter unter Volldampf. Mittlerweile kommen mir die Ausmasse riesig vor. Durch meine veränderte Position, lässt sich in einer leichten Halbtotalen nun ein Frachtschiff erkennen, zwei Ladebäume, einer vorne, einer mittig, die dreigeschossigen Aufbauten mit Brücke im Heck, insgesamt nicht das allerneuste Modell. Auch die Positionslichter sind wohl ausgefallen. Ich erinnere mich dunkel an einen Film, der Titel ist mir entfallen, wo ein Geisterschiff ohne Besatzung irgendwo in den USA im Hafen einlief. Mich gruselt leicht.
Man hört schon das stampfen der Maschine. Mannomann, der hält ja wirklich nicht an, das sind doch keine 100 Meter mehr! Das Wasser in der kleinen Bucht beginnt heftig zu schwappen. Alles scheint plötzlich den Atem anzuhalten. Nur die Möwen, die hauen ab. Ich weiss gar nicht, was ich jetzt machen soll, bin fasziniert, aufgeregt, leicht verwirrt, kann es gar nicht fassen. Der Dampfer ist jetzt fast neben mir, drückt sich vorwärts, ein rostiger, böser Koloss, kaum einen Steinwurf entfernt. Mit einem mal beginnt ein gigantisches Free – Concert der Apokalypse, eine Kakofonie des totalen Zusammenbruchs, dagegen kommt Heiner Goebbels Klanginstallation wie ein Wiegenlied rüber.
Der Boden vibriert, als der stählerne Rumpf sich ungebremst auf den Kieselstrand schiebt. Ein infernalisches Knirschen zerschneidet die Luft in hauchdünne, messerscharfe Klingen, die versuchen, meine Trommelfelle zu erreichen. Ich halte mir die Ohren zu. Der Bug wird angehoben unter dem markerschütternden Ächzen der verschweissten, sich im Todeskampf windenden Stahlplatten. Der dumpfe Donner des riesigen, kollabierenden Hohlkörpers unterlegt das Klangebilde mit einem dröhnenden Bassfundament. Steuerbord schabt der Schiffskörper offenbar an einem kleineren, älteren Wrack entlang, was dem bereits Verwesenden ein schrilles Kreischen entlockt, bestialischer noch, als 1000 abbrechende Fingernägel auf der Schultafel. Stockhausen ist auferstanden. Halleluja!
Ein Teil des vorderen Ladebaums knickt ab und kracht in den offenen Laderaum. Lautes Zischen ertönt an Bord, das Ungetüm hält abrupt inne und versteinert augenblicklich. Das durch die Antriebsschraube aufgewühlte Stückchen Meer fällt zusammen wie ein missglücktes Souflé, das desorientierte Schwappen des Brackwassers verliert sich allmählich. Mein Mund schliesst sich wieder. Gespenstische Stille an den Gestaden des Mysteriums …
Hands up, stay, don´t move, stay.
Eine heisere Stimme ertönt direkt hinter mir. Gleichzeitig bohrt sich ein harter, runder Gegenstand in meinen Rücken knapp unterhalb des Schulterblattes. Mir fährt der Schreck in alle Glieder. Zitternd hebe ich die Arme. Wenn ich vorher schon verwirrt war, dann ist das jetzt DIE Steigerung. Das letzte Level? Der Endgegner? Ich merke, wie sich meine Betriebssysteme gegenseitig den Stecker zu ziehen versuchen. Ausserdem habe ich Angst, mir in die Hose zu machen.
„Don´t move, don´t move.”
Eine schwarzbehaarte Hand an einem schwarzbehaarten Unterarm betastet meine Hosentaschen.
„You don´t have a Phone?“
Doch, ach so ... Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass das Ding noch da hinten irgendwo rumliegt. Klappe halten! Ich stammle ein wackeliges „No“ über die Schulter.
Von der Brücke des „nicht mehr ganz so frischen“ Freight – Liners ruft jemand etwas auf griechisch zu uns rüber. Zu meinem allergrössten Erstaunen, erkenne ich Käpt´n Iglo von gestern wieder, jetzt sogar mit Mütze. Kein Zweifel, das ist der Echte! Komischerweise beruhigt mich das etwas. Er und mein Peiniger führen einen Dialog. Ich verstehe kein Wort. Doch es ergibt sich für meine missliche Lage eine überraschende Wende. Nach ein paar Minuten Hin- und Hergeschreie tritt der Unbekannte hinter mir hervor, ein kräftiger Kerl, so um die 30, Muscle – Shirt plus Undercut, und läuft ohne Eile,  frech grinsend vor meiner Nase Richtung Kaimauer davon. Dabei schmeisst er ein kurzes Stück Rohr von sich.
So ein Arschloch, ich tobe innerlich. Diese Demütigung, mit einem simplen Stück Schrott werde ich hier vorgeführt. In meinen Gedanken renne ich hinter ihm her, spucke ihm ins Gesicht, haue ihm vier bis fünf Zähne raus und trete ihm in die Eier. In der Realität stehe ich immer noch an der gleichen Stelle und versuche, langsam das Zittern aus meinen Knochen zu kriegen. Zur Wahrheit gehört auch, bei seinem Alter und Körperbau würde er vermutlich in etwa das mit mir machen, was ich ihm gerade angedacht habe. Da bin ich Realist. Ich setze mich erstmal. Was zu trinken wäre auch nicht übel. Was Hartes!
Nach einigen Minuten kommt wieder Bewegung in die Szenerie. Ich fühle mich jetzt fast so wie auf einem Logenplatz im Theater. Am hinteren Teil des abgestellten Frachtschiffes, da wo der Abstand zur Wasseroberfläche am kürzesten ist, legt eine Art Rennboot an. Irgendwie wundert es mich auch kaum, dass das Arschloch da am Steuer sitzt. Zwei fette Aussenborder brabbeln erwartungsfroh vor sich hin. Von oben wirft jemand eine Strickleiter über die Reling und steigt die etwa 4 Meter abwärts, ein schwerfälliger, untersetzter Typ. Es wirkt wenig elegant, manchmal rutscht er sogar leicht ab, aber er kommt im Boot an. Dann wird eine scheinbar schwere Tasche abgeseilt. Als nächstes steigt Käpt´n Iglo auf die Reling. Er hält kurz inne, schaut zu mir rüber, und es scheint für einen winzigen Moment eine metaphysische Datenverbindung zwischen uns entstanden zu sein. Er hat, wenn ich das richtig verstanden habe, gesendet: „siehst du, so wird ein Schiff anständig geparkt, aber nun ist es Zeit zu geh´n, leb´wohl und halt die Ohren steif, Fremder“ – und ich habe geantwortet: „war ein echter Kracher, deine Performance, Käpt´n Iglo, du wirst für immer mein Held bleiben“. Halt so Männergespräche.
Dann steigt er ebenfalls nach unten und das Boot tuckert gemächlich Richtung offenes Meer. Wenig später zereisst das Aufjaulen der entfesselten Antriebsaggregate die abendliche Stille der Bucht von Eleusis und verliert sich alsbald im Dunst des hereinbrechenden Abends, als wäre nie etwas geschehen.
Ich sitze noch ein paar Augenblicke wie benommen, dann stehe ich behäbig auf und suche das Handy. Es liegt da, wo ich es aufgestellt habe. Gut, dass es auf lautlos gestellt war. Ich zähle satte 29 Meldungen, Anrufe, SMS, Whats App und E- mails. Alle von Nana – na klar. Es ist eine nette kleine Zusammenstellung verschiedenster Gemütslagen, locker & spassig, verblüfft bis fragend, leicht besorgt, ziemlich angefressen, stocksauer, usw. Ich rufe besser sofort an.
Die Wogen sind schnell geglättet. Spätestens bei der kurzen Erwähnung einer lebensbedrohlichen Situation (mehrere bewaffnete Männer) herrscht gespannte Stille am anderen Ende der Leitung. Ich kündige eine detaillierte Schilderung mit Bildmaterial an. Wir verabreden uns der Einfachheit halber beim falschen Italiener. Sie meint, sie wäre eh schon da, sie hätte natürlich voll Sorge den ganzen Ort abgesucht. Meine Nana, seufz!
Der folgende, brilliante Vortrag vor der staunenden Frau generiert zu einem epischen Meisterwerk zeitgenössischer Erzählkunst. Der Spannungsbogen stimmt, Pausen werden geschickt eingestreut, die Stimmlage und Lautstärke dem Geschehen angepasst. Teilweise muss die Dramatik der Handlung durch ausufernde Gestik etwas angehoben werden, auch inhaltlich. Da mein angestrebtes Sieger – Selfie leider nichts hergibt ausser Abendhimmel (wahrscheinlich im entscheidenden Moment umgefallen), ergibt sich unerwarteter Spielraum für szenische Überzeichnung. So wird aus dem überschauhbaren Küstenmotorschiff ein Ozeanriese, der quasi fast über meine Zehen fährt, mit einer martialisch bewaffneten Besatzung (10 – 20 Mann), Macheten, Faustfeuerwaffen, Boden – Luft – Lenkraketen, alles ist im Einsatz, bzw. kommt zum Vorschein. Mit jedem Glas Wein gewinnt die Story an Dynamik.
Nana bewundert das hervorragende Licht meiner Aufnahmen. Ich bemerke einen leichten Neid in ihren Augen glitzern. Tschaka! Aber ab jetzt darf sie ruhig wieder das Kommando übernehmen, zumindest lichtbildtechnisch.
Wie das dann bei dem Getränk der Götter so üblich ist, nach der Euphorie folgt auch alsbald die Erschöpfung. Ach ja, und morgen ist dann auch noch ein Tag, der vorletzte dieser unglaublichen Reise.


Stavros hat sich auf der gepolsterten, hinteren Sitzbank des Rennbootes ausgestreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und schaut nachdenklich in den Nachthimmel. Vor ihm, auf dem Drehsessel hinter der niedrigen Windschutzscheibe, hat sich Evangelistos hingefläzt, eine Hand am Steuer, eine am Handy, Kippe im Maul. Es soll wahrscheinlich seine ungeheure Lässigkeit unterstreichen. Tut es aber nicht. Es wirkt irgendwie lächerlich. Im Beifahrersitz neben ihm hängt Oleg. Jegliche Spannkraft, die er noch beim wiederbeleben des alten Kahns mobilisieren konnte, ist aus seinem Körper gewichen. Es reicht nicht mal mehr für ein Motorfachsimpeln mit Evangelistos. Das wäre eh schwer machbar bei dem Gedröhn der beiden Aussenborder. Eigentlich ist es auch völlig überflüssig, dass Evangelistos so ein Tempo macht. Der Job ist gelaufen, sie haben doch die sprichwörtliche alle Zeit der Welt.
Er wird das nicht mehr machen. Soviel ist klar. Nicht nur, weil es ihn jedesmal an seine grosse Havarie damals erinnert, nein, es widerstrebt ihm sowieso grundsätzlich, den Handlanger für irgendwelche Arschlöcher zu geben, die nur ihren ganz persönlichen Vorteil im Kopf haben. Es hat sich ein bisschen was geändert bei ihm in den letzten Monaten. Er merkt es immer mehr. Vielleicht ist es ja das Alter, die Angst, dass die Schmerzen jeden Morgen grösser werden, dass alles bald vorbei ist. Und das man allein ist. Es hat garantiert auch mit Gülay zu tun, der alten türkischen Hure, mit der er so oft nach diesen sinnfreien, beliebigen Zockernächten einen Mokka trinkt, bevor er in seine Höhle zurückschleicht, wie das andere lichtscheuen Gesindel, und bevor all die ferngesteuerten Proleten zur Arbeit aufbrechen.
Sie haben nichts miteinander, so dieser normale Mann – Frau – Kram. Aber irgendwas schweisst sie trotzdem zusammen, Kerben im Holz, Kratzer im Lack, Löcher im Pelz … Und irgendwie haben sie einen Weg gefunden, es dem anderen mitzuteilen, sich auszutauschen, sich besser zu fühlen, vielleicht weil jemand da ist, der zuhört. Manchmal geht er gar nicht erst spielen, sondern gleich zu ihr, noch viel länger rumsitzen, Kaffee trinken, rauchen. Dann schmeisst sie ihn irgendwann raus, es wäre schlecht für´s Geschäft, sie wäre ausserdem nicht zuständig, abgetakelte Seebären aufzupäppeln. Dafür gäbe es schliesslich die Heilsarmee. Aber das klingt längst nicht mehr so unfreundlich, wie am Anfang. Sie hat ihm neulich erst gesagt, er solle doch einfach aufhören, mit dem Gezocke, dem Gesaufe, dieser Scheisse, die ihn nur noch schneller ins Grab bringt. Leicht gesagt, kleine Schwalbe. Sie hat ihn auch gefragt, ob er eigentlich wüsste, was sein Sohn so treibt. Ach ja, Ioannis … – Scheisse, manchmal sollte sie einfach die Klappe halten!
Stavros versucht die Sternbilder zu identifizieren. Das Boot wird von einer Welle leicht angehoben und klatscht auf´s Wasser zurück. Herrgott nochmal, was muss dieser Idiot denn so rasen. Die Maschinen kotzen doch schon fast. Irgendwas stimmt nicht mehr mit dem. Er wirkt nervös und fahrig, ist sofort auf 180, wenn man ihm was sagt. Weiss der Geier, was der Typ sich eingepfiffen hat. Egal, es wird kein nächstes mal mehr g … --- …

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