Fortsetzungsroman "Kaffeefahrt nach Ostelbien"
 Kaffeefahrt nach Ostelbien – Kapitel 1: Die Ankunft
Liebe Freunde der klaren Worte und des (sch)wachen Verstandes, es ist ruhig geworden in der Stadt, tatsächlich haben viele ein Schlupfloch aus der Corona – Blockade gefunden und sind in Urlaub gefahren. Die Reiseziele stehen zwar etwas begrenzter zur Verfügung, aber es geht scheinbar wieder einigermassen, ausser nach Kabul vielleicht. Ich könnte bei mir nur bedingt von einer Urlaubsreise sprechen, dennoch, oder gerade deshalb, möchte ich euch von jener in Kenntnis setzen. Voll Freude, ja geradezu euphorisch erinnert mich das an meine früheste Jugendzeit, als mit Beginn des neuen Schuljahres die Aufgabenstellung für den Aufsatz gerne lautete: mein schönstes Ferienerlebnis. Nun denn …
Ich muss allerdings dazu folgendes vorausschicken, die „Urlaubsfahrt“, die ich hier beschreiben möchte, dauerte nur 4 Tage und ergab sich alles andere als seriös geplant. Ausschlaggebend war ein Gewinnspiel, an welchem meine Herzallerliebste (ab jetzt H! genannt) scheinbar unbedacht teilgenommen hatte, irgendwann einmal, im Netz vermutlich, ohne das etwas bei ihr in Erinnerung geblieben wäre. Doch da bewahrheitet sich wieder einmal, das Netz vergisst nichts! Jedenfalls hatte sie mir schon vor etlichen Monaten mitgeteilt, sie hätte ein Wochenende gewonnen, in Paris, für 2 Personen, Reisetermin noch nicht festgelegt. Olala, da war ich baff, sah mich bereits bei einem Pastis am Montmartre herumlungern, als dann jüngst die Kunde vom Reiseveranstalter eintraf, Paris könne man coronabedingt knicken, es gäbe aber eine charmante und äusserst attraktive  Alternative: Dresden, das Elbflorenz, die Sachsenmetropole. Und auch nicht am Wochenende, sondern Montag bis Donnerstag. Hoppela statt olala, mir wurde etwas sonderbar.
Jetzt muss ich noch eines vorausschicken, ich hatte unlängst zufällig ein Buch gelesen mit dem Titel „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ von James Hawes, einem Engländer, dem es trefflich gelungen ist, die gesamte deutsche Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart auf 350 Seiten runter zu brechen und der auch die lustige These aufstellt, dass man, historisch gesehen, die Zugehörigkeit des östlichen Teils zu ebenjenem Gesamtdeutschland durchaus zur Diskussion stellen könne. Mit allerlei Karten zu Grenzverläufen aus den verschieden Jahrhunderten belegt er, dass, verkürzt gesagt, ungefähr der Verlauf des Limes (plus/minus), später dann die Zonengrenze, als historische Grenze Deutschlands betrachtet werden darf, und alles was östlich davon liegt, er nennt es Ostelbien, sich quasi aufgedrängt hat, also gar nicht dazugehört und sich obendrein für die deutsche Entwicklung der Neuzeit, sagen wir mal wohlwollend, semi – vorteilhaft erwiesen hat. Ich erinnerte mich an ein vages, eher ungutes Gefühl, dass mich schon oft nach überqueren des Limes in östlicher Richtung beschlichen hat, ohne je sagen zu können, warum. Na bitte, da wäre der Ansatz.
Unter derartigen Voraussetzungen, erschien es mir als geradezu idealer Zeitpunkt, einmal selbst jenes sagenumwobene, fremdartige Land in Augenschein zu nehmen, zumal mein letzter Aufenthalt in jenen Gefilden (damals noch Westberlin) mehr als 30 Jahre zurück lag. Wohlan Geliebte, sprach ich also zu Selbiger, lass uns den Horizont erweitern oder verdunkeln, je nach un- oder voreingenommener Sichtweise des Betrachters (hahaha). Die Geliebte sprach mit wahrhaft epischem Nachhall in der Stimme: Montag, 9:30 Uhr, Frankfurt – Busbahnhof!
Es war ein Montagmorgen, Ende Juli, Hauptbahnhof – Südseite. Die Sonne lugte bereits über die Dächer der angrenzenden Häuser. Eine tote Taube klebte ausgewalzt im Asphalt. Wir hetzten von der U – Bahnstation zum Treffpunkt Busbahnhof. Die umfangreiche Fotoausrüstung von H! trieb mir die Schweissperlen auf die Stirn. Muss sein, dachte ich, muss sein. Es roch nach Diesel und Urin. Ein leichter Wind spielte mit dem Unrat, den die überquellenden Abfallbehälter nicht mehr aufnehmen wollten. Die fremdländischen Reisebusse lagen still in der sich ankündigenden Hitze des noch jungen Sommertages, wie gestrandete Wale vor Norderney. Schilder verrieten ihre avisierten Ziele: Pristina, Podgorica, Tirana. Mir kam in den Sinn, dass vor ein paar Tagen ein Bus auf der Balkanroute verunglückt war. Viele Tote – Wink des Schicksals?  Ich war zu phlegmatisch, um jetzt noch umzukehren. H! hätte mir auch was gehustet. Der angekündigte deutsche  Premium – Reisebus ward nicht zu entdecken. Die Zeit verstrich, langsam und zäh, ich zählte die plattgetretenen Kaugummis auf dem grauen Betonplatten. H! telefonierte mit dem Reiseunternehmen, niemand wusste etwas, aber alles sei in Ordnung, versicherte man ihr. Ein älteres Ehepaar aus Rüsselsheim stand in unserer Nähe, suchend in die Runde blickend, kleines Gepäck, Weggefährten, Gewinnspiel – Gestrandete wie wir. Geistig befand ich mich bereits im Schwimmbad in Eschersheim, da bog er um die Ecke, majestätisch erhaben durchzog er das Busterminal wie dereinst die Titanic den Hafen von Liverpool, ja, da war er, der sehnlichst erwartete König der Landstrasse, zugegeben, nicht mehr das allerneueste Modell, aber egal. Zischend öffnete sich die Tür und heraus sprang Hartmut (Name aus Gründen des Datenschutzes geändert), der erwartete Kapitän der Landstrasse, zugegeben, nicht mehr das allerneueste Modell, aber jetzt wollen wir mal nicht kleinlich werden. Zügig verlud er das Gepäck, während seine Jeans ständig über seinen nicht vorhandenen Hintern zu rutschen drohte. Weggesessen, dachte ich, von Kilometermillionen aufgefressen. Wir bestiegen das Gefährt, in dutzende ausdrucklose geränderte Augenpaare blickend, zugestiegen im Morgengrauen, weit weg von hier, irgendwo bei Erkelenz. Der Bus war nicht voll besetzt. Das versprach etwas mehr Reisekomfort, zumindest Beinfreiheit. Als in Gelnhausen ein Rentnerehepaar zustieg, okkupierte ich vorsichtshalber flugs eine freie Sitzreihe gegenüber. Der Bus ruckelte wieder auf die Autobahn, Hartmut gab Gummi, es war ja schon genug Zeit verloren. Ich machte es mir bequem. Meine Gedanken flogen vorbei wie ein Schwarm Vögel, Bäume, Strassen, verstreute Dörfer, unbekanntes Leben, unbekanntes Sterben. Der Altersdurchschnitt der Reisegesellschaft machte mir Sorgen. Würden wohl alle ihr Ziel erreichen? Bevor ich mich in einen Gedanken festbeissen konnte, machte Hartmut eine Durchsage. Das klang in etwa so wie im Flugzeug, man verstand maximal die Hälfte, was etwas schade war, weil er wohl gerne ein paar Witze einstreute. Wirklich schade. Verstanden habe ich nur, dass die Toilette coronabedingt geschlossen blieb. Vielleicht könnte meine Prostata mit meiner Blase kurzfristig ein Waffenstillstandsabkommen schliessen. H! sass in der gegenüberliegenden Sitzreihe und las in der Zeitung, die Sonne verfing sich ab und an in ihren hochgesteckten Haaren. Wie schön sie war. Sie strahlte soviel Zuversicht aus. Ich dachte an Paris, die Stadt der Liebe, stattdessen erwartete uns das Tal der Ahnungslosen (DDR Jargon für Dresden). Ich spürte, wie die Müdigkeit mich erfasste. Bald darauf sank ich in einen unruhigen Schlaf. Im Traum stand ich auf einem Wachturm am Limes in einer lächerlichen römischen Plastikrüstung, wie man sie zu Fasching kaufen kann, allein, irgendwo in der Wetterau. Meine Aufgabe bestand darin, einen möglichen Angriff der Barbaren abzuwehren, um jeden Preis, bis zum letzten Mann. Und der war zufällig ich. Dann kamen sie, sie waren natürlich in der Überzahl, Otto von Bismarck und Angela Merkel. Sie trugen Pickelhauben und Wehrmachtsuniformjacken, untenrum Strapsen und Stöckelschuhe, was auf mich eine unglaublich demoralisierende Wirkung ausübte. Ich warf nach ihnen, mit allem was ich hatte, Kaffeebecher, Schweizermesser, Schlüsselbund, Smartphone und zum Abschluss das abgeknickte Plastikschwert meiner Ausrüstung. Es war erbärmlich. Frau Merkel tanzte Kasatschok und schrie: wir schaffen das, wir schaffen das! Von Bismarck sägte mit einer Laubsäge an den Palisaden. Ich musste den Druck erhöhen, wenn nicht gar zum Äussersten greifen. Also schob ich eine Sesterze in die Musikbox, die seltsamerweise auf meinem Wachturm stand und wählte den Wendler. Klick, klack -  „Egal …“ -  dröhnte es den Limes entlang, während ich mich in der Verzweiflung eines aussichtslosen Widerstands vom Turm stürzte und auf den Reichskanzler zu flog, gefühlt minutenlang, wie in Zeitlupe. Bevor mich seine Pickelhaube aufspiessen konnte, tätschelte jemand meine Wange. H!, gottseidank, es war H!. Der Bus fuhr auf eine Raststätte. Herleshausen. In der heutigen baulichen Beschaffenheit der Anlage liess sich die alte DDR Grenzkontrollstelle noch deutlich wiedererkennen. Instinktiv nestelte ich in meinem Jackett herum, suchte den Reisepass, den ich heute morgen wiederum instinktiv eingesteckt hatte. Die amerikanische Frikadellenbraterkette, die heutzutage das Gelände kontrolliert, interessierte das allerdings herzlich wenig, die wollten nur knallharte Devisen oder Sanifair – Wertbons. Wehmütig schaute ich nach Westen und nippte an meinem Cappucino. Ab jetzt, das wurde mir schlagartig klar, ab jetzt war Ostelbien.  
Die vorbeirauschenden Ortschilder verrieten schon eine gewisse Veränderung: Wartha, Gotha, Jena, Gera… - irgendwie endete fast alles auf A,  klingt so ähnlich wie Wolga, Taiga, Balalaika, dachte ich so vor mich hin. Hartmut nölte Unverständliches durch die Lautsprecheranlage, die Reisenden protestierten: lauter! Das Mikrofon stöhnte und quietschte, dann war zu vernehmen, dass unser Hotel jetzt fest stand. Vorher hiess es auf Nachfrage immer, man könne das Hotel aus organisatorischen und sonstigen fadenscheinigen Gründen erst kurz vor Ankunft benennen. Eine durchaus dreiste, wie auch lustige Idee, gab sie doch dem ganzen Zinnober den Charakter einer Schnitzeljagd. Also, der Schuppen hiess Quality – Hotel und war in Kesselsdorf gelegen. Wer wolle, könne sich auch gleich in eine Liste für das Abendessen eintragen, € 18,00 pro Person, es gibt Buffet. Sofort begann die Meute mit einer digitalen Hatz, die Smartphones glühten, die Falten auf der Stirn verdichteten sich erkennbar. So auch bei uns. Der Sachverhalt war schnell geklärt, die Fakten ernüchternd: das Hotel lag in einem Gewerbegebiet von Kesselsdorf, ca. 11 Kilometer vom Stadtzentrum Dresdens entfernt. Nach weiterer Recherche fand sich in den Ortsgrenzen unseres tristen Ortes der Verbannung gastronomisch keine andere Möglichkeit (Montagabend!), ausser, dreimal dürft ihr raten, im Quality – Ghetto. Aha, so läuft der Hase also, dachte ich, aber der Veranstalter hatte wohl nicht mit meinem vogelsberger Renitenzgemüt gerechnet. Auch bei H! flackerte bereits das Feuer des Widerstandes in den Augen. Unsere Blicke trafen sich wie flammende Schwerter, funken sprühten am Firmament, die Fackel des Widerstands ward entzündet.
Es galt nur noch ein Hindernis zu überwinden, den Endgegner sozusagen, Olga (Name aus Datenschutzgründen geändert), die Walküre der elektrischen Heizdecken, die Amazone des Kleingedruckten, die eiserne Lady unter den Reiseleiterinnen. Selbstsicher nahm sie die Reisegruppe am Hoteleingang in Empfang. Auch bei ihr würde ich als Beschreibung „nicht mehr das allerneuste Modell“ durchgehen lassen. Gepaart mit geringer Körpergrösse (ca. 1,60 m) und einem unverkennbar osteuropäischer Akzent, liess sie jedoch keinen Zweifel daran, wer ab jetzt das Kommando übernommen hatte. Wir wurden vom ostelbischen Wachpersonal, möglicherweise auch dem Hotelkellner, in einen Speisesaal geführt und durften warten, bzw. trinken. Auf eigene Rechnung natürlich. Derweil baute sie langsam, ganz langsam einen Tisch mit Papierkram direkt am Eingang des Raumes auf. Dann verschwand sie, um kurze Zeit später wieder aufzutauchen, mit der Einrichtung ihres Büros fortzufahren, wieder zu verschwinden und so fort. Der Vorgang wiederholte sich einige Male. Psychologische Tricks, dachte ich, erprobt in endlosen Jahren kalten Krieges. Die Reisegruppe murrte, scherzte, tuschelte. Es gab Grüppchenbildungen und es zeigten sich bereits erste Führungscharaktere, ähnlich wie bei amerikanischen Katastrophenfilmen. Ich beschloss, im Bedarfsfall die Rolle des Arztes zu übernehmen, so einer muss ja auch immer dabei sein oder vielleicht die des Piloten im Ruhestand, der die Maschine landen muss, weil Hartmut wegen einer Lebensmittelvergiftung bewustlos geworden ist. H! wäre dann Stewardess und würde mir assistieren. Irgendsowas halt. Es kam anders. Olga nahm endlich Platz und begann in jovialen Ton sich vorzustellen, garniert mit lauen Witzen über ihren eigenen Akzent (Vertrauen aufbauen!), und einem kleinen Quiz, ihre Herkunft betreffend. Keiner fand die Lösung: Ungarn. Dann stellte sie die verschiedenen Zusatzleistungen vor, die man unbedingt buchen sollte, weil hochinteressant und unglaublich günstig, als da wären, Fahrt nach Leipzig am nächsten Tag inkl. Abendessen in megatollem Restaurant (€ 99,-- pro Person), Aufbruch im Morgengrauen, und am darauffolgenden Dresden plus Elbsandsteingebirge und Abendessen in ultra – supidupi  Restaurant (€ 99,-- pro Person), Aufbruch im Morgengrauen. Und so weiter und so fort, irgendwann war kein Sonderangebot mehr verfügbar, ausser vielleicht Aufbruch im Morgengrauen. Es stellte sich heraus, dass viele eh schon das volle Programm gebucht hatten. Die Veranstaltung näherte sich ihrem Höhepunkt, auf den zumindest H! und ich sehnlichst hingefiebert hatten. Und dann kam endlich der entscheidende Satz, die Erlösung, die Befreiung, wie einstmals, September 1989, verkündet von Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft: „… wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihr Zimmerschlüssel – Berechtigungsschein für sie bereit liegt...“ Unbeschreiblicher Jubel brach aus. H! reagierte sofort. Panthergleich schoss sie zu Olga vor, riss den Zettel an sich, streckte ein Victoryzeichen der Meute entgegen und entschwand jauchzend zur Rezeption. Ich folgte hechelnd mit dem Gepäck, Tränen der Freude in den Augen. Und so schwebten wir Hand in Hand beschwingt über den abgewetzten Teppichboden des Hotelflurs, der von längst verblichener Quality zu künden schien, und erreichten überglücklich unser Quality – Zimmer. Also, es war wirklich okay das Zimmer, obwohl es gewiss schon bessere Tage gesehen hatte. Wir waren ja schliesslich nicht im Gulag. Wir waren in Kesselsdorf. Wir waren in Ostelbien. Hurra!

Kaffeefahrt nach Ostelbien – Kapitel 2: Kontaktaufnahme
Es gibt Sachen, die bleiben. Naturgesetze zum Beispiel. Bei H! und mir gibt es sowas auch. Ich sage das jetzt, ohne es werten zu wollen. Zum Beispiel, wenn wir ein Hotelzimmer beziehen, beginnt H! sofort damit, ihre Sachen in die Schränke einzuräumen. Ich dagegen werfe mich erstmal auf´s  Bett, zum einen um die Standfestigkeit und etwaige Geräuschentwicklung zu beurteilen, zum anderen um in entspannter Haltung mit der Fernbedienung des TV Gerätes die Programmvielfalt festzustellen. Falls vorhanden, wird selbstverständlich auch die Minibar inspiziert. Mein Gepäck fristet dann oft ein tagelanges Unbeachtetsein neben der Bettkante. Desweiteren beobachte ich H! gerne bei ihren Tätigkeiten. Das hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Warum sie für zweieinhalb Tage acht Paar Schuhe braucht, ist dabei nicht von belang (Naturgesetz). Wenn sie sich nach dem Einräumen für den anstehenden gesellschaftlichen Anlass zurecht macht, ist der eigentlich attraktive Teil der Veranstaltung. Ich bitte um Verständnis, dass ich da nicht weiter ins Detail gehen will (Persönlichkeitsrechte, Datenschutz).
Zurück zum Ausgangspunkt. Ich lag also auf dem Quality – Bett im Quality – Hotel, beobachtete, sinnierte, während mein Magen signalisierte, dass es nahrungstechnisch mal wieder an der Zeit wäre. Das Wetter hatte sich im Laufe des frühen Abends prächtig entwickelt, sodass nur eine Open – Air – Gastronomie in Frage kam. Das machte es nicht einfacher. Wie schon gesagt, in Kesselsdorf, einem gastronomischen Outback, kam nur unser Hotel – Restaurant in Frage, was wir ja bereits beide abgelehnt hatten. Nach einigem suchen und stetig sich erweiterndem Umkreis, gelang mir die entscheidende Kontaktaufnahme. „Tanz-  und Familiengaststätte Immergrün“ hiess das Etablissement. Entfernung: 6,5 km. Ein freundlicher Herr meldete sich am Telefon und beschied mir im ortsüblichen Idiom, dass jetzt geöffnet sei, aber wenn keiner mehr da wäre, würde man auch einfach dicht machen. Das erschien mir plausibel, wenn auch etwas schwierig planbar für Aussenstehende. Ich versicherte ihm, wir seien sozusagen unterwegs und er möge doch noch ein wenig verweilen, angesichts der zu erwartenden Umsatzexplosion. H! legte den Lidstrich in Rekordzeit an und wir flogen zur Rezeption, um ein Taxi zu bestellen. In der Zwischenzeit warteten wir vor dem Haus, misstrauisch beäugt von einer Gruppe gramgebeugter, fahlgesichtiger Raucher, die um einen sandgefüllten Eternitkübel versammelt, ihre rituell anmutenden Rauchopfer darbrachten, wohl auch Mitglieder unserer Reisegesellschaft dabei. Echt spooky! Keine zehn Minuten später hielt ein blitzsauberer Benz mit Taxischild neben uns und wir entflohen aus dem Höllenpfuhl in eine unbekannte Galaxy. Ich hätte nie gedacht, welch ein Gefühl von Hoffnung und Zuversicht so ein baden - württembergisches Quality – Fahrzeug ausstrahlen kann, hatte ich doch insgeheim mit einem Lada oder qualmenden Wartburg gerechnet. „Du kleiner arroganter Wessiarsch…“ meldete sich meine interne moralische Revisionsabteilung sogleich zu Wort –  „Tschuldigung, aber wo kann der Wessi denn noch Wessi sein, wenn nicht hier?“ schoss mein Teufelchen zurück. Der Fahrer, ein Herr in den besten Jahren, bekam von meinem inneren Zerwürfnis rein garnichts mit und nahm routiniert unser Fahrtziel zur Kenntnis. H!, in ihrer offen Art, begann alsbald ein Gespräch. Ich bin da eher zurückhaltend. Sie outete uns als fröhliche frankfurter Wandervögel, fragte nach regional Sehenswertem, parlierte über dieses und jenes. Der Chauffeur, wie der angerufene Gastronom mit ortsüblichen Zungenschlag, parlierte gerne mit, auch über dieses und jenes, gab sich allerdings im Verlauf des Gesprächs als zweifacher Ingenieur zu erkennen, an dessen fachlicher Kompetenz leider kein Interesse mehr zu bestehen schien, weshalb er sein Auskommen fortan mit Taxifahren zu bestreiten gezwungen sei. Ein Anflug von Bitterkeit war unüberhörbar. Ich dachte in diesem Moment an die blühenden Landschaften, die irgendwer vor langer Zeit mal beschrieen hatte und ob da nicht unter Umständen ein Posten als Gärtner zu haben gewesen wäre. Das sagte ich natürlich nicht laut, vorsichtshalber. Es ist ja bekannt, dass so manch´ unbedachte Äusserung, einen Taxifahrer dazu animieren kann, mehrere zusätzliche Stadtumrundungen in die eigentlich überschaubare Fahrtroute zu integrieren. Glücklicherweise endete unsere Fahrt dann alsbald vor der Schrebergartenanlage „Immergrün“.
Ein Idyll, eine Oase vorstädtischer Beschaulichkeit, damit hatten wir so nicht gerechnet. Man lief ein paar Meter durch ein Spalier von meist gepflegten Kleingärten und gelangte dann in einen kleinen, mit allerlei Kletter- und sonstigen Grünzeug eingefassten Hof, vor einem einstöckigen Häuschen, dem Gartenlokal. An etwa einem halben Dutzend Tischen, genoss eine handvoll Gäste, durchweg Einheimische, den warmen Sommerabend bei gekühlten Getränken. Es gibt sie also doch, die blühenden Gärten, dachte ich. Die Atmosphäre war  bodenständig und bar jedweder Noblesse eines Gourmet – Tempels, die Gerichte waren entsprechend und nicht teuer. Der Kellner, vermutlich auch gleichzeitig der Wirt, gab keine langatmigen Empfehlungen ab, sondern gab nur an, was aus ist. Ich verkniff es mir, nach der Weinkarte zu fragen. Bier war das Gebot der Stunde. H! wirkte etwas overdressed in diesem eher hemdsärmeligen Umfeld, aber das wusste sie mit ihrem unvergleichlichen Charme wunderbar zu überspielen, beziehungsweise, es juckte keinen. Wir entspannten zum ersten mal an diesem Tag, liessen uns im hier und jetzt fallen, ja, wir hatten alles richtig gemacht. Die Leute sprachen komisch, aber das Bier war gut, Ostelbien hatte uns aufgenommen.
Nun, da hätte man jetzt denken können, supi, alles bestens, noch zwei, drei gepflegte Bierchen und dann ab ins Taxi, der Tag war lang und herausfordernd genug. Und ich muss dazu sagen, genau das habe ich auch gedacht, aber H! denkt anders, diametral anders, das habe ich gelernt, das weiss ich, ja, das ist halt so (Naturgesetz). Wenn H! irgendwo hin geht, dann möchte sie auf keinen Fall denselben Weg zurück gehen, wäre ja langweilig. Mein Argument, es käme ja bestimmt ein anderes Taxi, wurde milde belächelt. So verliessen wir jenen paradiesisch anmutenden Ort und begaben uns in unerforschtes Terrain, durch einen anderen Ausgang, versteht sich. Ich latschte in meinen ausgetretenen Sommerslippern missmutig vor mich hin, sie stöckelte unternehmungslustig von links nach rechts, oder umgekehrt. Eine gelbe Strassenbahn fuhr an uns vorbei, einladend leer. Wohin, fährst du, gelber Götterbote, trag mich nach Hause. Ich begann, unseren Aufenthaltsort zu lokalisieren, der Akku meines Smartphones lechzte nach einer Speisung. H! meinte, es gäbe bestimmt eine Busverbindung nach Kesselsdorf, sie hätte reichlich Haltestellen gesehen. Aha! Eine äusserst indifferente Wahrnehmung. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Wenn ich mal von meinem Handy aufschaute, erblickte ich ein eher ruhiges Stadtviertel um mich herum, verschlafenes Ambiente, alte, dreigeschossige Häuser, kleine Läden, viel Grün, kein Mensch auf der Strasse. Leutewitz verriet ein Strassenbahnschild. Ich war gerade dabei, den Computer der Dresdner Verkehrsbetriebe zu hacken, da fiel mein Gerät aus, akutes Energieversagen. „Mist“ fluchte ich laut. Keine Reaktion. H! war nicht mehr zu sehen. Ich muss hier vielleicht  erläuternd hinzufügen, dass das normal ist. H! verschwindet dauernd, wenn man mit ihr unterwegs ist. Ausserdem verschwinden noch Hotelschlüssel, Pullover, Handys, Kamerataschen, Parktickets, usw. Aber das nur nebenbei. Also, zusammenfassend sei gesagt, wenn nur H! verschwindet, ist alles im grünen Bereich, dann fotografiert sie. Das ist ihr Beruf, möglicherweise auch ein Naturgesetz, da bin ich mir nicht sicher. Ich steckte mein totes Smartphone in die Hosentasche und stapfte los, nicht zu schnell, sie sollte mich ja wenigstens einholen können. Ein Ziel hatte ich sowieso nicht mehr. Ziellos in Ostelbien, meine Gedanken drifteten ins philosophische, die Stimmung kippte, das merkte ich deutlich an dem leichtenZucken in meiner linken Gesichtshälfte.
Dann sah ich sie liegen. Zwei Strassenecken weiter. Sie lag auf dem Rücken, reglos im Schein einer trüben Strassenlaterne. Ein leichter Wind bewegte ihr Sommerkleid. Der Schrei einer Eule zerriss die verhängnisdräuende Stille. Ihre Arme, ausgestreckt gen Himmel gerichtet, sanken langsam nach unten. Sie hob den Kopf, begutachtete den Bildschirm ihrer kleinen Kamera. Bitte! Hab´ ich´s nicht gesagt: sie fotografiert. Gemächlichen Schrittes trat ich an sie heran, reichte meine Hand. Sie zog sich hoch. Nachdem wir gemeinsam den Staub vom Kleid  abgeklopft hatten, durfte ich das Ergebnis sehen. Es war eine Komposition aus Licht, Schatten, ineinanderfliessenden Farbelementen und einer Bushaltestelle, etwas verschwommen zwar, aber erkennbar. Nun gut, das Foto hätte es dazu nicht zwingend gebraucht, lag die Haltestelle doch in etwa fünf Meter Entfernung, aber hier geht es um mehr, hier geht es um das Grosse, das allumfassende Ganze, sozusagen das Raum und Zeit Kontinuum zweier Künstler auf Kaffeefahrt, jenseits aller bekannten Dimensionen, wenn ihr wisst, was ich meine. Egal. Ich erkundigte mich nach ihrem Handy und siehe da, es war noch in Betrieb. So ermittelten wir tatsächlich eine Busverbindung mit einmal Umsteigen nach Kesselsdorf, die letzte für diesen Tag, Start in erträglichen 35 Minuten. Wir scherzten und turtelten uns durch die Wartezeit, schossen Unmengen an Selfies. Eine Katze lief in sicherer Entfernung vorbei und schüttelte verständnislos den Kopf. Ich glaube, es war das einzige Lebewesen, das hier wohnte. Der Bus kam dann irgendwann. Es waren kaum Leute drin. Vorne beim Busfahrer konnte man coronabedingt nicht einsteigen. Hinten schon. Wir gingen im Bus nach vorne, fragten nach Tickets, ein Automat war weder im, noch ausserhalb des Busses zu sehen. Der Fahrer, ein junger Mann mit dichten langen, zum Zopf gebundenen, schwarzen Haaren, blickte uns entgeistert an. Bei ihm gebe es keine Fahrscheine, coronabedingt. Scheinbar steigt auch hier sonst nie jemand ein oder aus, dachte ich. Er war aber ganz cool, und sagte in bekanntem ortsüblichen Slang, wir sollten uns einfach hinhocken, er sage rechtzeitig Bescheid, wenn wir umsteigen müssten. Dann schob er seine In – Ear – Hörer ins Ohr und fuhr los. Vermutlich wollte er weiter in Ruhe Ramstein hören. Die Fahrt zog sich hin, draussen war es finster, noch finsterer, als wir die Stadt verliessen. Irgendwann drehte er sich nach hinten, und bedeutete uns gestisch, dass wir den Abgang machen sollten. Echt cool.  Gombitzer Höhe hiess der Ort. Eine Kreuzung, ein Schienenstrang, ein Hotel, eine Kneipe, alles dunkel. In the middle of nowhere, hier vermutlich ist der Begriff entstanden. Wir warteten an der Bushaltestelle. Es standen tatsächlich noch drei weitere Personen herum. Das nährte unsere Zuversicht. Ein Wolfsrudel überquerte die Landstrasse in Richtung Osten. Der Fuchs und der Hase hatten sich glücklicherweise frühzeitig gute Nacht gesagt, es gab also diesbezüglich keine Zwischenfälle. Was mit dem Igel war, weiss ich jetzt auch nicht mehr, jedenfalls folgte kurze Zeit später ein Rudel Tierschützer, vermutlich den Wölfen hinterher. Ostelbien bei Nacht. Dann kam der Bus. Der Busfahrer, sprachlich klar als Einheimischer identifizierbar, zeigte ebenfalls ein erstaunliches Mass an Hilfsbereitschaft und Flexibilität. Auf unsere Frage, ob er denn nach Kesselsdorf in die Nähe des Quality – Bunkers führe, gab er zu Bedenken, dass nachts kein Bus mehr die Route durch den Ort fährt, aber er würde uns an günstiger Stelle rauswerfen, dann müssten wir halt den Rest zu Fuss gehen, 1 km vielleicht. Das erschien uns praktikabel. Was blieb uns auch anderes übrig? Immerhin lernten wir so auch noch Kesselsdorf bei Nacht kennen, wo vermutlich Fuchs und Hase zusammen mit dem Hund und dem gesamten Streichelzoo begraben sind.
Es gab keinen Grund zur Beschwerde, die Nacht war lau, die Sterne funkelten am Firmament, ich latschte mittlerweile barfuss wegen aufkommender Blasenbildung am Innenrist, H! stöckelte gutgelaunt an meiner Seite, was willst du mehr, dachte ich. Und vielleicht, es war ja erst kurz vor Mitternacht, ja vielleicht hatte die Hotelbar noch geöffnet. Sie hatte. Ein einfacher Tresen seitlich des Eingangsbereichs. Hinter dem Tresen stand der Kellner, den ich schon bei unserer Ankunft dem Kaffeefahrten – Wachpersonal zugerechnet hatte. Ich erkannte ihn an den Glasbausteinen, die er als Brillengläser verwendete. Olga, der Endgegner, war nicht zu entdecken, davor hatte ich ehrlich gesagt etwas Angst gehabt. Vor dem Tresen sassen zwei Mittvierziger, Handwerker auf Montage, wie ich vermutete, eben das andere Klientel, dass diese Unterbringung hier hauptsächlich frequentierte (ausser den Kaffeefahrern). Die trinkfreudigen Werktätigen waren hoch erfreut über unser Eintreffen, genauer gesagt, über H!s, und luden sie zu einer munteren Talkrunde. Angesichts der Brillenschlange hinter der Bar eine nachvollziehbare Initiative. Glücklicherweise hatte H! überhaupt keinen Bock darauf, sich mit mehr oder weniger anzüglichen Aperol – Spritz – Botschaften anbaggern zu lassen. Wir bestellten zwei Pils und verzogen uns auf´s Zimmer. So musste ich auch nicht tags darauf in der Firma der Monteure anrufen, um mitzuteilen, dass die Mitarbeiter nachts bis in die Puppen feiern würden und in diesem Zustand wohl kaum ihren beruflichen Pflichten nachkommen könnten. Wäre mir echt unangenehm gewesen, Kollegen.
Es ward Nacht in Ostelbien, der erste Tag klang aus, ganz in Frieden, ohne Dissonanzen. Wir nahmen unsere wohlverdiente Mütze voll Quality – Schlaf und zogen das insgesamt doch recht positive Fazit: die Leute sprachen komisch, aber das Bier war gut.

Kaffeefahrt nach Ostelbien – Kapitel 3: Assimilation
Ich lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Es muss wohl früher Morgen gewesen sein. Im Sommer wird es früh hell, besonders in Hotelzimmern die nach Osten ausgerichtet sind und deren Vorhänge nicht richtig schliessen. Wenn ich in einem Hotel übernachte, schliessen die Vorhänge nie richtig, aus irgendeinem Grund immer. Ob das eine mysteriöse Bauvorschrift ist? Oder ein kostenloser Service der daraufhin weisst, dass das Frühstücksbuffet bereits eröffnet ist? Ich dachte darüber nach. Neben mir schnorchelte H! friedlich vor sich hin. Das darf man ihr nicht sagen, also, dass sie Geräusche macht. Menschen machen eben Geräusche, je älter sie werden, desto mehr. Das darf man auch nicht sagen, das mit dem älter werden. Aber jetzt war das egal, ich dachte das halt so für mich, da darf ich alles. Im Hotel war schon Leben eingekehrt, man hörte Stimmen und Schritte auf dem Gang, im Nachbarzimmer lief die Dusche. Vermutlich machten sich unsere Kaffeefahrer bereit für den Ausflug nach Leipzig (€ 99,00). Viel Vergnügen! Die Monteure waren wahrscheinlich auch schon auf Montage. Nochmals viel Vergnügen! Wir fielen da etwas aus der Reihe. H! rollte sich von einer auf die andere Seite ihrer Betthälfte und schnorchelte dabei laut auf. Ich überlegte, ob ich mit meinem Smartphone eine Tonaufnahme machen sollte. Ach nöö, lieber nicht. Ausserdem wollte ich gar nicht wissen, wie früh es war, lieber weiter vor mich hin dösen und ggfs. über wichtige gesellschaftliche Themen der Zeitgeschichte philosophieren. Ein Thema, dass mich vor allem morgens oft beschäftigt, sind die völlig unberechenbaren Qualitätsunterschiede bei Cappucinos im gesamteuropäischen Gastronomiegewerbe, einschliesslich Italiens. Ich meine, die EU regelt doch alles, selbst die Krümmung der Bananen, aber bei Cappucino, da ist doch Anarchie, der Willkür Tür und Tor geöffnet, der Verbraucher schutzlos ausgeliefert. Das kann doch nicht im Sinne eines europäischen Miteinander sein, wenn dir von so manch einem selbsternannten  Kaffeehausbetreiber straffrei ein Eimer heisse Milch vor die Nase gesetzt werden darf, der die Kaffeebohnen nur perifär gestreift haben kann, wenn überhaupt. Da hört doch der Spass endgültig auf …  – Kaffeeebohnen in Baströckchen tanzten vor meinem inneren Auge um einen Eimer Milch herum, eine Kuh, die gute schwarzweisse Holsteiner, wiederkäute lässig ihren Mageninhalt und stampfte mit dem linken hinteren Huf im Takt zu „I will survive“, ich dämmerte langsam weg.
Jäh weckte mich eine wohlbekannte Weck – Muzak – Melodie, lieblos ersonnen von den digitalen Schaltkreisen weltweit operierender Elektromüllhersteller, penetrant zelebriert vom Handy meiner Partnerin. Das ist für mich nichts neues, das ist gewissermassen eine Art immer wieder kehrendes Missgeschick von ihr. Oder Dauerschabernack, je nachdem, wie man es sehen will. Sie behauptet dann steif und fest, sie hätte den Wecker ausgeschaltet, es wäre ein vollständiges Rätsel, warum das Ding losgeht. Nun ja, sie klingt jedesmal so überzeugend, dass ich generös darüber hinwegsehe (selbst sonntagmorgens um sechs). Aber das nur nebenbei. Diesmal hatte alles seinen Sinn, 9:45 Uhr. Hurtig sprang H! aus dem Bett und verschwand im Bad: „Bis 10:00 gibt’s Frühstück“. Benommen richtete ich mich auf. Das Wasser im Waschbecken sprudelte bereits, die Klospülung füllte rauschend Nachschub auf. Ich tastete nach den Klamotten, dann nach der Zahnbürste, dann nach der Brille. Vielleicht auch anders herum. Wasser ins Gesicht, ein Klaps auf jede Wange und schon standen wir im Aufzug. Der Frühstückssaal lag still und verlassen wie ein einsamer Bergsee vor unseren sich allmählich öffnenden Augen. Die Kaffeefahrer sind auf Kaffeefahrt, die anderen am montieren, konstatierte ich messerscharf. Sonst gab es in diesem Schuppen offenbar eh niemanden. Fast. Es gab dann doch noch eine etwas pausbäckige junge Kellnerin, die uns missbilligend hinterher sah, als wir an ihr vorbei rannten und auf der Terasse, die bereits abgedeckt war, einen Tisch okkupierten. Outdoor war die Devise, koste es, was es wolle, es war schliesslich Sommer, und unser erster ganzer Tag in Ostelbien. Da störte auch die eher wechselhafte Witterung nicht, die uns ein paar sommerliche Begrüssungstropfen entgegen schickte. Der Sonnenschirm hielt, ich bestellte mir sogleich einen Cappucino (morgendlicher Härtetest). Gegen alle Erwartung war er sowohl erhältlich, wie auch geniessbar, was meiner Grundstimmung eine solide Basis verlieh und der Pausbäckigen ein solides Trinkgeld beschehrte. H! schien auch bestens gelaunt. Sie studierte bereits die verschiedenen touristischen Angebote auf ihrem Smartteil, während sie ihren Kaffee schlürfte. Wir beschlossen, zuerst den ultimativen Hotspot abzuarbeiten, Elbufer mit dem ganzen Barockbaugedöns, um dann mit einem eleganten Sidestep in der Neustadt unsere Aufwartung zu machen. So der Matchplan. Ich denke da war noch viel Raum für Quality – Free – Time. So starteten wir frohgemut in einen neuen Tag unserer Expedition zu den bizarren Lebensformen auf den weissen Flecken unserer persönlichen Landkarte.
Zurück auf dem Zimmer richteten wir unsere Marschausrüstung, bzw. ich überlegte, ob die ausgelatschten Slipper die anstehende Exkursion überleben würden. Die Alternative war ein Paar ausgelatschte Adidas Samba. Tja, der Preis der Lässigkeit. H! spielte mit dem Gedanken, ihre Wanderschuhe anzuziehen, ich verwiess auf deren negativen Einfluss auf ihren tendeziell eher eleganten Gesamteindruck. Das zog. Nach etwa einer Stunde des Überlegens, Outfit wechselns, des Bad betretens und wieder verlassens, war sie so gut wie startklar. Ich hatte es mir in der Zwischenzeit auf dem Bett bequem gemacht und die Überlegung angestellt, ob eine Runde Quality – Sex jetzt nicht das Startpaket angemessen aufwerten könnte. „Hast du schon die Busabfahrtszeiten gecheckt…“ kam es aus dem Bad. Nun, es gab offenbar Dringlicheres. Mein Projekt musste warten. Kurze Zeit später, der Zeiger der Turmuhr wanderte bereits gen Mittag, standen wir an der Bushaltestelle. High Noon in Ostelbien, Irgendwo am Rande von Kesselsdorf, tumble weeds rollten über die Strasse. H! wie aus dem Ei gepellt, in adretter Sommergarderobe und mit grosser Fotoausrüstung, ich dagegen, passend zu meinem verknitterten Gesicht, im verknitterten Hawaihemd. Welch ein Anblick, ein Bild für die vielzitierten Götter, hat wahrscheinlich auch der Busfahrer gedacht, der uns wenig später 5 € abknöpfte. Nach kurzer Fahrt stiegen wir in the middle of nowhere (Gombitzer Höhe) um in die Strassenbahn. Bei Tageslicht besehen, war es offensichtlich doch zivilisatorisch erschlossenes Gebiet. Auch der Personennahverkehr schien hier zu flutschen, die Bahn kam und ruck zuck waren wir Ahnungslosen in ebenjenem Tal. Im Vergleich zu Berlin oder Hamburg hat Dresden überschauhbare Ausmasse. Wir landeten also flott und ohne Orientierungsprobleme im touristischen Epizentrum der Elbmetropole, einer Ansammlung von barocken Angeberbauten in geradezu disneyhafter Konzentration. Der Vorteil dabei waren die kurzen Wege. Das verdichtet natürlich auch die Menge kurzatmiger Silberlocken in beigen Windjacken pro Quadratmeter, aber bei welchem publikumsträchtigen Top – Hit ist das nicht so. Mein unzureichendes Schuhwerk jedenfalls war dankbar. Ein weiteres Merkmal dieser sogenannten Sehenswürdigkeiten, sie sind immer in irgendeinem Baumodus, entweder ihr Umfeld oder sie selbst werden restauriert, umgebaut, aufgemotzt. Was soll man da sagen, bzw. fotografieren. H! stört das wenig. Und da sind wir wieder bei den Naturgesetzen. Der weitere Verlauf unseres Ausflugs verlief jetzt so, wie ich schon im vorherigen Kapitel beschrieben hatte, H! fotografierte (vermutetes Naturgesetz), verschwand und tauchte auf, gelegentlich trug ich die Fototasche, dann wieder nicht, mal lag ich auf einer Mauer, mal sass ich auf einer Parkbank, mal blickte ich melancholisch über das Elbufer, mal gedankenverloren in eine Bierflasche. Ich kann viel dabei nachdenken. Das tue ich dann auch. Das ist vor allem dann am schönsten, wenn es wenig zielorientiert ist. So habe wichtige Grundsatztheorien entwickelt, z.B. über die Ursachen der chronisch schwach besetzten rechten Angriffsseite von Eintracht Frankfurt. Meine Überlegungen gehen dahin, dass womöglich diese Position eine Art paralympische  Quotenstelle ist, die, egal wen der Verein dafür verpflichtet, immer einem offensichtlich Gehbehinderten (Da Costa, Chandler, Heller, Fenin etc.) zur Verfügung gestellt werden muss. Damit man mich nicht falsch versteht, ich bin selbstverständlich uneingeschränkt für die Integration von behinderten Menschen in das gesellschaftliche Leben und somit auch in einen Bundesligaverein, aber wäre da nicht eine Position in der Geschäftsstelle oder im Verwaltungsrat deutlich angemessener. Möglicherweise liegt aber auch ein Fluch über dem Stadion, obwohl ich diesem parapsychologischen  Firlefanz eher skeptisch gegenüberstehe. Beim Fussball gibt es das tatsächlich. Davon bin ich überzeugt. So könnte es durchaus sein, dass die Ursachen der Misere gar auf die Meisterschaft von 1959, bzw. deren traumatische Wechselwirkung auf den vernichtend geschlagenen Gegner Kickers Offenbach zurückgeführt werden muss. Seit geraumer Zeit halten sich hartnäckige Gerüchte, dass moralisch zweifelhafte Subjekte aus jenem in jeder Hinsicht bedauernswerten Nachbarort am Anstosspunkt im Waldstadion mystisch negativ vorbehandelte Gegenstände vergraben haben könnten… Aber das gehört jetzt nicht hierher. Zugegebenermassen ist die Theorie auch noch nicht ganz ausgereift.
H! hatte Hunger. Ich auch. Es war früher Nachmittag. Wir verliessen den angestaubten Historienzirkus über die dazugehörige Brücke gen Osten, passierten das protzig vergoldete Reiterstandbild des einstigen Sachsen – Obermotz August des Starken (1670 – 1733), der seinerseits sein Pferd in die gleiche Richtung wiess. Da haben wir es doch wieder: seit jeher ostorientiert. Wir dagegen waren hauptsächlich nahrungsorientiert, weder ost- noch  westlich. Nach kurzem Fussmarsch gelangten wir in die Äussere Neustadt, einem Stadtteil der überraschenderweise von der in deutschen Grossstädten grassierenden Gentrifizierung  gänzlich unbeleckt schien. Ganze Strassenzüge mit weitgehend erhaltener Vorkriegsbausubstanz, Cafes, Kneipen, Ateliers in Hinterhöfen, das ganze optische Tralala einer Alternativszene, wie sie z.B. in Frankfurt am Main schon lange wegsaniert und von einem selbstgefälligen Mob mittelschichtiger Langweiler aufgekauft wurde. Eine Oase, nein,  ein Jurassic – Park linksalternativer Gemütlichkeit, dachte ich. Dieser gefrässige Mob kommt hier wahrscheinlich auch irgendwann vorbei, wenn ihm woanders langweilig ist. Das macht er eigentlich immer so. Könnte man fast von Naturgesetz sprechen. Ist es aber nicht. Es ist einfach nur Scheisskapitalismus. – „Bam!“ – Die Wolken am Himmel verdichteten sich gewittrig. Wir steuerten ein italienisches Gasthaus an, nicht zuletzt wegen des gut überdachten Gartens. Restaurants waren in dieser Gegend komischerweise eher rar gesät, man ernährte sich hier offenbar weitgehend von Kaffee, Alkohol und Second – Hand – Klamotten. Wie dem auch sei, wir assen zufrieden eine Runde Nudeln und obwohl der Kellner diesmal nicht komisch sprach, war das Bier gut.
Ich habe das Gefühl, wenn man sich erstmal auf eine Stadt eingelassen hat, beginnt sie irgendwie automatisch an vielen Stellen mit einem zu sprechen. Wenn man mit einer Frau wie H! unterwegs ist, kann die Stadt quasseln was sie will, dann wird sie abgelichtet. H! hört wohl mehr mit dem Auge. Nach dem Essen interessiert mich grundsätzlich wenig, wer wo spricht, oder wem nicht zuhört, selbst der Espresso hilft da oft nur limitiert. Aber das war dann auch egal. Ich war jetzt Modell, musste wie zufällig an grellen Grafitti – Wänden vorbeischlendern, lässig aus der Wäsche gucken, das ein oder andere Kleinkunstobjekt begutachten, den Bauch einziehen, was man halt so macht als Modell. Ich habe da schon eine gewisse Routine. Vor dem Essen hatte die Stadt auch mal kurz mit mir gesprochen. Das war an der Gedenktafel der Frauenkirche, wo ein Kircheninspektor den Einsturz der Kirche am Tag nach der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 beschreibt. Eine Randnotiz des ganz grossen Wahnsinns, sowas berührt mich oft. Wahrscheinlich weil in solchen Ereignissen die ganze tragische Inkompetenz menschlichen Daseins zu Tage tritt. Seit Mitte der Neunziger haben sie dann den ganzen Trümmerhaufen wieder zusammengesetzt. Hat so ca. 10 Jahre gedauert das Puzzle. Dann kann es ja wieder von vorne los gehen, dachte ich mit dieser fiesen, mir eigenen Boshaftigkeit.
So liessen wir uns weiter treiben, überquerten die Elbe wieder gen Westen. Der Abend hielt Einzug in Ostelbien. Hinter dem Touri – Zentrum war dann, wie in den meisten deutschen Grossstädten, nicht mehr viel übrig vom alten Stadtkern. Das ein oder andere Bauwerk versprühte noch den spröden Charme sozialistischer Biederkeit. Ansonsten war hier das Reich der standartisierten Shopping – Tempel. In einer Fussgängerstrasse kumulierten einige rappelvolle Strassenrestaurants, offenbar sassen da jetzt die ganzen Barock – Begutachter nach langer Steinbeschau. Das Wetter hielt einigermassen, was man von meinen Schuhen nicht sagen konnte, also bat ich um eine Verschnaufpause. Wir steuerten ein etwas abseits gelegenes Restaurant an. Russische Küche verriet die Speisekarte. Ich dachte an Lappen, die man sich als Strumpfersatz um die Füsse wickelt, weiss auch nicht warum. Wir nahmen einen Imbiss und ein paar Kaltgetränke zu uns, was zu einer merklichen orthopädischen Entspannungslage führte, weshalb ich wohl auch in meinem Übermut die Heimreise per Taxi vorschlug. Der Antrag wurde abschlägig beschieden. Wir hätten schliesslich alles voll im Griff mit dem ÖPNV. Auch mein Einwand, der Rucksack der kulturellen Überfrachtung wöge doch so schwer, stiess auf taube Ohren. Das Argument, ich könne mir ja gelegentlich mal richtige Schuhe anziehen, war kaum zu entkräften. Was soll ich sagen, es kam, wie es kommen musste, und das Prozedere muss ich nicht mehr beschreiben: Gombitzer Höhe, ein Name, der sich wie ein Bergmassiv in mein Unterbewusstsein gemeisselt hat. Und das schlimmste, sie hatte ja recht, die Heimfahrt lief wie geschmiert (Strassenbahn, Wolfrudel, Bus …), glatte Routine, keine Überraschung. Die wartete dagegen in unserem Quality – Domizil.
Schon am Eingang flirrte uns die erotisch aufgeladene Partyatmosphäre entgegen. Helene Fischer gab ihr bestes, wenn man da vom besten sprechen will. Gut, das mit der Erotik streichen wir einstweilen wieder, aber sonst steppte der Bär. Der Tresen der Hotelbar war lückenlos besetzt. Lückenlos war auch die Wolke süsslichen Parfumnebels, der heutzutage an die Stelle des Zigarettenrauch längst vergangener Zeiten getreten ist. Ausser ein paar mir unbekannten Gästen, gewahr ich eine Gruppe von vier Damen, die ich als Mitglieder unserer Kaffeefahrtsgesellschaft identifizierte, und, wie sollte es anders sein, die beiden Monteure mittendrin. Die Damenriege hatte sich leger in Schale geworfen und die ein oder andere Gesichtsfalte souverän weggespachtelt, altermässig würde ich sie allesamt als „Rock around the Menopause“ einstufen. Hinter dem Tresen gab Brillenschlange so eine Art Conferencier. „… ein guter Ficker wird selten dicker …“ klang das Ende seines gerade interpretierten Witzes zu uns herüber, kommentiert von spitzen Schreien (Damenriege) und kehligen Grunzlauten (Monteure). Brillenschlange hatte offenbar ein untrügliches Gespür für angemessenes Niveau zu fortgeschrittener Stunde. Jetzt fehlte eigentlich nur noch Hartmut, der Kapitän der Landstrasse und Olga, der Endgegner, und Kesselsdorf hätte endlich ein Varieté von internationalem Format, dachte ich. H! dachte vermutlich ähnlich, wie ich ihrem belustigten Gesichtsausdruck entnehmen konnte. Mit einiger Mühe gelangten wir zu unserem Bier (war gut) und freuten uns, endlich den Rucksack der kulturellen Überfrachtung an der Bar abgeben zu können. Die weiteren Gesangskünstler, die aus der kleinen Lautsprecheranlage quäkten, waren mir weitestgehend unbekannt, hatten aber gewiss eines gemeinsam, nie in den Verdacht geraten zu sein, je diesen besagten Kulturrucksack befüllt zu haben. Meine Plattfüsse wippten beschwingt im Takt und ich küsste H! spontan auf den Mund. Sie lächelte und legte den Arm um meine Hüften. Ich dachte daran, wie schön es war, mit H! unterwegs zu sein, egal wo auf der Welt, selbst in einer angeschmuddelten Hotelbar in Ostelbien  –  und ich dachte an ein heute morgen verschobenes Projekt …

Kaffeefahrt nach Ostelbien – Kapitel 4: Assimilation mit blauem Wunder
Sex ist nicht alles, dachte ich, während wir im Bus durch die östlichen Vororte Dresdens zuckelten, viel erhaltene Altbebauung, gediegene Bürgerlichkeit allenthalben. Es war fortgeschrittener Vormittag, der Himmel bewölkt. Rückblickend auf den gestrigen Abend sei noch erwähnt, dass wir beschwingt von einer dezenten Prise hormonellem Aufruhrs und einer etwas weniger dezenten Portion Alkohol unser Quality – Zimmer aufsuchten. Während H! gemäss ihren Gepflogenheiten das Bad für einen längeren Zeitraum beanspruchte, muss ich wohl eingeschlafen sein. Ich hätte ja sooo süss ausgesehen, gab sie mir am darauf folgenden Morgen zu verstehen. Es macht in diesem Kontext wenig Sinn, Frauen erklären zu wollen, dass es für einen Mann durchaus angemessene Anlässe geben kann, wieder aufgeweckt zu werden. Sei´s drum. Konzentrieren wir uns wieder auf das Wesentliche. Jenen besagten  Morgen könnte man auch mit „ …und ewig grüsst das Murmeltier“ treffend zusammenfassen, mit den kleinen Variationen, dass wir es tatsächlich geschafft hatten, schon gegen halb zehn im Frühstückssaal einzutreffen und die Tür zum Aussenbereich geschlossen vorfanden. Auf Nachfrage hiess es wetterbedingt. Ich meine, ein klitzekleines Aufflackern des Triumphes in den Augen der Pausbäckigen gesehen zu haben. Okay, okay, es regnete tasächlich. Mit uns kann man ja reden. Da wir sowieso wieder die einzigen Gäste im Saal waren, verlegten wir unser morgendliches Briefing in den Innenbereich, da können wir auch mal sowas von verdammt flexibel sein. H! hatte eine kleine Ausstellung in Loschwitz ins Auge gefasst und anschliessend den Besuch im Hygiene – Museum (?). Donnerwetter, es galt offenbar, den kulturellen Rucksack neu zu befüllen. Ich nickte den Plan ab, ohne die geringste Ahnung von den zu erwartenden Unwägbarkeiten oder Herausforderungen zu haben. Nur eines war klar, aufgrund der Erfahrungen des Vortages wollte ich fussbekleidungstechnisch einigermassen gerüstet sein. Ich wählte daher die Retro – Sporttreter, mehr stand mir eh nicht mehr zur Verfügung. Das Wetter schien unbeständiger als gestern, weshalb auch das verknitterte Sakko ins Marschgepäck gehörte. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass H! wieder wie aus dem Ei gepellt dem Tag entgegen trat, ich dagegen, sagen wir mal, so semi.
Die Fahrt schien nie zu enden, doch plötzlich überquerten wir auf einer imposanten ältlichen Stahlbrücke die Elbe und befanden uns am Ziel unserer Reise: Loschwitz. Wir verliessen den Bus und nahmen Witterung auf, bzw. gaben die Zielkoordinaten in das Smartphone ein, wie das heutzutage der moderne Mensch macht. Zwei Minuten später hatten wir die Alte Feuerwache erreicht, eine Art Mini – Kulturzentrum, welches medial eine Kunstausstellung annonciert hatte. Alles wirkte sehr beschaulich. Die Tür ward verschlossen, aber es gab eine Klingel. Wir klingelten. Wie gesagt, es wirkte alles sehr beschaulich. Ich würde sogar sagen, es wurde immer beschaulicher. Wir klingelten nochmals. Nach weiteren beschaulichen Minuten in vorstädtischer Beschaulichkeit, ich dachte bereits an ein beschauliches Bier in überschaubarer Reichweite, kam eine junge Frau um das Gebäude herum, musterte uns erst mit kritischem Blick, gab sich aber dann hocherfreut über unser Anliegen, die Ausstellung zu besuchen, schloss die Tür auf und bat in ortsüblicher Mundart darum, ihr später bitte Bescheid zu geben, wenn wir fertig wären. Masken bräuchten wir nicht. Klar, wir waren ja auch alleine. Dann war sie wieder weg und liess uns in beschaulicher Verwunderung zurück. Aber Gut, warum nicht, so geht´s auch. Wir begutachteten also in aller Ruhe die überschaubare Anzahl beschaulischer Exponate. An den Wänden hingen Bilder, im Raum, der in etwa das Format einer Doppelgarage hatte (zwei Feuerwehrautos), standen vier oder fünf Skulpturen, abstrakte Werke, ästhetisch sehr ansprechend, wie ich unbedingt  bemerken muss. Die beiden ausstellenden Künstler mögen mir verzeihen, dass mir ihre Namen entfallen sind, aber meine nicht mehr ganz neue mentale Festplatte läuft bisweilen im kapazitären Grenzbereich, wenn ihr wisst, was ich meine. Jedenfalls endete unsere erste Veranstaltung des Tages dann auch relativ zügig, wir gaben den Schlüssel wieder ab und entrichteten einen freiwilligen Obulus in die bereitgestellte Spendenbox.
Zurück auf der Hauptstrasse erweckte der Hinweis auf eine Standseilbahn unser Interesse, mit welcher man offenbar den rechtselbig, idyllischen anmutenden Höhenzug erklimmen konnte, ohne dabei kostbare Kraftreserven zu vergeuden. Das sprach mich an. H! komischerweise auch (sie läuft sonst doch eher). So ratterten wir gemütlich in einem kleinen Wagon den kleinen Berg hinauf. Wie zufällig befand sich an der Bergstation, ausser jeder Menge Villen und Bungalows für Besserverdienende, eine alteingesessenes, etwas mondän wirkendes Ausflugslokal mit Postkartenblick auf das Elbtal Richtung Dresden. Yoh, wenn es ma jetzt nicht regnen würde, dachte ich so vor mich hin, während ich bereits die Speisekarte studierte. H! fotografierte trotzdem, da kennt sie nichts. Ich bestellte Mittagessen. Die Kellnerin sprach komisch aber das Bier war gut. Mehr muss man dazu nicht sagen. Wie wir den Berg erklommen, so klommen wir ihn wieder hinab, um zeitnah den nächsten Programmpunkt abzuarbeiten: das Blaue Wunder. Klingt spektakulär, ist aber für Nicht – Statiker mehr so Richtung ganz nett. Es handelt sich dabei um eine alte Stahlbrücke (1893) über die Elbe zwischen den Stadtteilen Loschwitz und Blasewitz (die haben´s scheinbar mit dem Witz in Ostelbien). Bautechnisch war das Ding wohl für die damalige Zeit sensationell. Ich finde, es sieht aus, als hätte man ein paar Restposten vom Eiffelturmbau aufgekauft, hier horizontal zusammengeschraubt und mit einem grenzwertigen blassblauen Anstrich versehen, weil das Geld womöglich ausgegangen ist. Aber ich bin da nur Laie. Die eigentliche Sensation ist für mich, dass das Ding noch steht. Offensichtlich hatten ein paar auf dem Rückzug befindliche Frustbolzen der Wehrmacht am 7. Mai 1945 vor, die Brücke zu sprengen. Das muss man sich mal vorstellen, einen Tag vor der Kapitulation. Da haben dann einige infrastrukturbewusste Lokal – und Freizeitrebellen gedacht, ebbe langt´s, bevor wir mittelfristig die Oma wieder über die Elbe zum Friseur rudern müssen, sabotieren wir mal schön den ganzen Unsinn. Hätte man ruhig schon vorher darauf kommen können, das mit dem sabotieren, so ab 1933 z. B. Wer da alles damals mitgemacht hat, ist immernoch umstritten, aber klar, wenn mal was gut gelaufen ist, wollen plötzlich alle Pappnasen dabei gewesen sein, altes Pappnasennaturgesetz. Überflüssig zu erwähnen, dass H! das Bauwerk ausgiebigst abgelichtet hatte, bevor wir im Blasewitzer Nieselregen eine Strassenbahn bestiegen, die uns zurück ins Zentrum der Metropole angerosteten ostelbischen Glanzes beamen sollte.
Hygiene – Museum, ich gebe zu, bis ich wirklich davor stand, hatte ich bislang keinen Schimmer, was zum Teufel das sein könnte. Ein Ausstellungshaus für historische Kloschlüsseln des Sanitärfachverbandes Sachsen – Ost, kalauerte mein unwissendes Grosshirn vorlaut. Knapp daneben ist auch vorbei. „Das Hygiene-Museum soll Stätte der Belehrung sein für die ganze Bevölkerung, in der jedermann sich durch Anschauung Kenntnisse erwerben kann, die ihn zu einer vernünftigen und gesundheitsfördernden Lebensführung befähigen“, wird der Dresdner Odol – Fabrikant Karl August Lingner zitiert, der selbiges Museum 1912 auch gegründet hatte. Schau an, schau an, das rechtschaffene deutsche Unternehmertum des frühen 20. Jahrhunderts. Das Gebäude an sich ist auf jeden Fall ein Hingucker. Klassische Moderne, würde der fachkundige Schlaumeier vermutlich dazu sagen, entworfen von Wilhelm Kreis, 1930 fertiggestellt. H! war begeistert. Ich auch. Nachdem wir den baulichen Leckerbissen visuell ausreichend gewürdigt hatten, war ich eigentlich schon durch mit dem Museumsprojekt und scannte die Umgebung, ob irgendwo in der Gegend ein Tresen mit den klaren Linien der Bauhausarchitektur korrespondieren würde. Das Wetter hatte sich beruhigt, die Sonne guckte entspannt um die Ecke und meine Festplatte dengelte schon ein wenig im Gehäuse aufgrund des nimmermüden Informationsflusses. Wahrlich keine idealen Rahmenbedingungen für Ehrgeiz und Übereifer. Wir schauen da mal rein, gab H! die Richtung in unerschütterlicher Bildungsbeflissenheit vor. Ein kühles Pils zerplatzte vor meinem inneren Auge. Nachdem wir ein nicht unbedeutendes Eintrittsgeld entrichtet hatten, betraten wir die grosse Ernährungsausstellung, nein, die ganz grosse Ernährungsausstellung, ach Quatsch, die die Mega – Hyper – Welt – Ernährungsdings… –  es war unfassbar, das war ein komplettes Hochschulstudium mit Dissertation, was da vor uns in endlosen Schaukästen aufgebaut war. Ich bekam ein Gefühl, als hätte ich mich gerade eingeschrieben, was durch den  Altersdurchschnitt der übrigen Besucher auch ungefähr hinkam. Forever young – von wegen, das Dengeln meines Speichermediums war vermutlich schon ausserhalb meiner Schädeldecke vernehmlich. Ich bekam leichte Schlagseite. Angesichts der zahlreichen jungen Studentinnen um mich herum ein unhaltbarer Zustand. H! war bereits eingetaucht in das Semester, hatte vermutlich schon ihren ersten Schein gemacht. Na gut, da muss ich dann wohl durch. Ich versuchte mich in die Apathie zurück zu versetzen, mit der ich sowohl Schul –, wie auch Studienzeit relativ schadlos überstanden hatte, irgendwie über Wasser halten, nicht gegen den Strom ankämpfen, treiben lassen, ruhig atmen, cool bleiben… Am Ende eines schier endlosen Studiums wurde ich in einen Saal gespült, in dessen Mitte eine monströse Installation den Blick verstellte, angeblich zum Thema der Ausstellung. Man durfte, bzw. sollte in verschiedenen Ecken des Raumes durch schriftliche Einlassungen das Kunstwerk bereichern. Immer dieses Mitmachgedöns – ohne mich! Die zahlreich aufgestellten Sitzmöbel boten für mich die weitaus passendere Interaktionsfläche, die ich auch so bald nicht aufzugeben gedachte. Nach einiger Zeit trieb dann H! vorbei, fiel auf einen Sessel neben mir. Sie wirkte etwas angestrengt, auch wenn sie das ungern zugegeben hätte. Wir beschlossen in stillem Einvernehmen, zügig zu exmatrikulieren.
Nach höchster intellektueller Beanspruchung empfing uns draussen ein sommerlicher Spätnachmittag und bettelte, nein schrie quasi nach dem Zerstreuung bringendem geistigen Tiefflug. Das ist dann eher meine Königsdisziplin. Ich ergriff also die Gelegenheit, einen letzten, mir persönlich äusserst wichtigen Programmpunkt in Angriff zu nehmen, den ich H! bereits im Vorfeld erläutert hatte: das legendäre Foto vor dem Stadion. Um das dem geneigten, aber wenig fussballaffinen Leser auch zu erklären, es ist so eine Angewohnheit, nennen wir es ruhig Marotte, auf urlaubsähnlichen Fahrten aller Art ein Lichtbild von mir zu erstellen, welches mich vor dem jeweiligen örtlichen Fussballstadion in betont lässiger Pose zeigt. Während der gewöhnliche Tourist sich z.B. in Barcelona vor die Sagrada Familia drapiert, stellt sich unser eins viel lieber vor dem Camp Nou (Stadion des FC Barcelona) in Positur. Fussballtempel statt Kathedrale, jeder hat so seinen kleinen Tick. Nun, Dresden ist nicht Barcelona, und das Rudolph – Harbig – Stadion nicht das Camp Nou, aber Tick ist Tick und das Stadion lag eben nur 500 Meter entfernt. Jene nun von uns anvisierte Sportstätte ist die angestammte Heimat des Fussballvereins Dynamo Dresden, was sich in heimischem Srachduktus ungefähr wie Dynämöö Dräsdn anhört. Zu DDR – Zeiten immerhin achtfacher Landesmeister, dümpelt er nun eher zweit – bis drittklassig vor sich hin. Die Fangemeinde gilt in der Szene als nicht gerade linksliberal, mal vorsichtig formuliert, was allerdings in ostelbiens Fussballlandschaft eher als Gütesiegel gewertet werden darf. Soweit also die Fakten.
Das Fussballverständnis von H! bewegt sich zwar irgendwo knapp unter Null, aber zu fotografischen Herausforderungen lässt sie sich nicht zweimal bitten. Nach kurzer Suche wurde ein passender Standort für mein Foto gewählt, der sowohl das Stadion, wie auch mich in günstigen Licht erscheinen liess. Zum Abschluss der kleinen Session zückte ich einen dicken Filzschreiber und hinterliess eine literarische Grussbotschaft an einem der Kassenhäuschen. Ich entschied mich für folgende Kurzprosa: „Eure Eltern sind Geschwister“ und „Alles ausser Eintracht ist Scheisse“. Um auch dies nochmal zu erklären, der Wert von Grussbotschaften unter den Freunden des runden Leders bemisst sich an deren Niederträchtigkeit. Als Faustregel gilt, je übler desto besser. Damit hatte ich also meiner diplomatischen Verpflichtung als Frankfurter Botschafter Genüge getan. Was mir dabei etwas Sorge bereitete, war die Anwesenheit einer Gruppe von Schwarzkapuzenshirt – Trägern auf Mountainbikes, die unser Treiben aus einiger Entfernung interessiert verfolgte. Kurzentschlossen hakte ich mich bei H! ein und schlug vor, zügig, aber keinesfalls hektisch, im gegenüberliegenden Stadtpark „Grosser Garten“ zu verschwinden. Sie schaute mich verständnislos an. Ich brauche Bewegung, gab ich ihr zu verstehen. Sie glaubte mir kein Wort, verzichtete aber glücklicherweise auf ihre sonst nicht unerhebliche Renitenz. Dann ging alles ganz schnell. Wir durchquerten den baum– und buschbestandenen Randbereich des Parks und gelangten auf eine sommerliche Wiese, die glücklicherweise ungemäht war. Besondere Ereignisse erfordern besondere Massnahmen. Ich entschied mich für den „ungestümen Wüstling“, riss H! zu Boden und küsste sie leidenschaftlich. Zwischendurch lugte ich zwei-, dreimal verstohlen über das hohe Gras. Nicht weit von uns auf dem Kiesweg rasten schwarzbejackte Radfahrer vorbei. Sie wirkten aufgeregt. Ich tauchte wieder ab (selten so gerne abgetaucht). Von mir aus hätte das mit dem Abtauchen noch eine Weile so weitergehen können, ich dachte bereits mögliche Steigerungsvarianten durch, wenn nicht plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Mops aufgetaucht wäre, der unser Treiben glupschäugig begutachtete. Sein erbsengrosses Hirn schien dabei fieberhaft die alles entscheidende Mops – Frage zu erörtern, wo gibt´s hier was zu fressen? Irgendwie brachte uns das raus. Wir mussten lachen. Der Mops trollte sich beleidigt, ohne je die Antwort gefunden zu haben. Vermutlich erinnerte er sich nicht mal mehr an die Frage. Dann wollte H! noch wissen, was ich da am Stadion geschrieben hätte. Dass ich ihre strahlende Schönheit im Vergleich zu den derben ostelbischen Weibern auf´s höchste gerühmt hätte, übertrieb ich, aber auf´s allerhöchste. Du lügst, kam es angemessen sachlich zurück. Kurze Zeit später okkupierten wir eine Strassenbahn, die uns in Richtung Äussere Neustadt bringen sollte, ein Stadtgebiet, wo es sich, wie wir gemeinsam empfanden, am entspanntesten aushalten liess.
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass in unserer Beziehung oft gelogen wird? Nein? Ist eigentlich auch kein grosses Ding. Bevor die Fundamentalromantiker gleich losheulen, wir haben das neulich mal gemeinsam festgestellt, beruht auf Gegenseitigkeit. Dadurch kommt es selten zu übertriebener Aufregung oder hysterischen Geschirrzerstörungen. Man muss halt ab und zu mal rückfragen (Beispiel: „Ich liebe dich.“ – „Echt jetzt, meinst du das ernst?“). Es bleibt ausserdem unter uns, nicht wie z.B. bei Donald Trump, dem „godfather of narcissistic personality disorder“, wenn der mal abledert, da weiss es gleich die ganze Welt. Und wenn´s ganz dumm läuft, rennen ein paar Flachpfeiffen los und stürmen das Capitol, oder irgendwann was anderes auf dieser Welt. Ehrlich gesagt, das macht mir schon ein bisschen Angst. Bei H! und mir passiert das natürlich nicht, da stürmt niemand den hessischen Landtag, noch nicht mal den Sommerschlussverkauf (gibt´s das noch?). Genug,  bevor hier schlechte Laune aufkommt, kehre ich lieber ganz schnell zu unserer Wahrheit und nichts als derselbigen zurück, die da heisst: der letzte Tango in Ostelbien.
Wir steuerten auf das Kulturzentrum Scheune zu, welches über eine grössere Aussengastronomie verfügt und, wie H! sofort freudig bemerkte, weitgehend fleischlose Verköstigung anbot. Komischerweise muss ich immer an ein Wildschwein am Drehspiess über offenem Feuer denken, wenn ich vor einem solchen Lokal stehe. Offensichtlich findet in meinem Inneren ein ernährungsideologischer Ablösungsprozess statt, indem sich eine massive konservative Gegenposition aufbaut, gegen die sich meine neue vegetarische Identität erst durchsetzen muss. Das gelingt nur zum Teil. Manchmal esse ich das Wildschwein. Komm, hier gibt es wirklich tolle Sachen, lockte H!, die meine unschlüssige Mimik sofort durchschaut hatte. Ist doch supi, log ich. Letztendlich ging ich dann doch mit rein, erstens, weil ich den letzten Abend in Ostelbien nicht mit pienziger Kleinlichkeit torpedieren wollte und zweitens hatte ich Hunger. Es kommt dann auch meistens, wie es kommen muss, mir schmeckt es. Unnötig zu erwähnen, dass die Kellnerin komisch sprach, aber das Bier war mir diesmal egal, ich trank einen kräftigen spanischen Rotwein. Der passt besser zu der leisen Wehmut, die mich immer erfasst, wenn ich ein Reiseziel wieder verlassen muss, zu dem ich gerade zarte Bande des Vertrauens aufgebaut hatte. Diese Gefühle liess ich H! auch wissen und so tranken wir, emotional ergriffen, noch den ein oder anderen kräftigen Roten, bis die Realität uns wieder einholte: die letzte Runde. Mit dieser  Gewissheit sickerten auch die anderen durch, die da hiessen, heutige  Rückfahrt nach Kesselsdorf und morgige Rückreise nach Westen, Abfahrt selbstredend im Morgengrauen.
Wir nahmen ein Taxi. Die Rückfahrt zum Quality – Domizil ist mir auch nur noch schemenhaft in Erinnerung. Sie war auf jeden Fall in kommunikativer Hinsicht zurückhaltender, da unser junger ostelbischer Teilzeitfahrer wenig Interesse signalisierte, mit zwei nicht mehr ganz taufrischen Wessis, deren Zungen schon etwas schwerlich gingen, seine Lebensgeschichte zu teilen. Dafür war er ziemlich flott unterwegs. Ich glaube mich noch zu erinnern, wie auf der Gombitzer – Höhe ein Wolfsrudel in Panik auseinander stob und eine Gruppe Tierschützer wütend mit den Fäusten fuchtelte. Etwa fünf Sekunden später hielt das Taxi vor dem Hotel und wir fielen kopfüber nach draussen. Die Hotelbar war diesmal unbesetzt. Es bleibt für mich schwer nachzuvollziehen, nach welchen Regularien sich dort Betrieb einstellte, oder auch nicht. Eines der vielen Quality – Mysterien. Was soll´s, war diesmal vielleicht besser so. Wir fielen ein zweites mal kopfüber, diesmal ins Bett.

Kaffeefahrt nach Ostelbien – Kapitel 5: Herleshausen
Geraschel, Geklapper, Gekruschpel – geschäftiges Treiben um mich herum beendete einen kurzen traumlosen Schlaf mitten in der Nacht. Ich hob den Kopf und wollte fluchen, ob des Furors zu gänzlich unangemessener Zeit, doch meine pelzige Zunge klebte am Gaumen fest. Erschöpft sank ich ins Kissen zurück. Mein Gehirn begann die Eindrücke zu sortieren, es war noch dunkel draussen hinter dem Vorhang, im Zimmer war grelles Licht, jemand trällerte leise ein Liedchen, ich kannte dieses Wesen, es war H!, H! war meine Freundin. Wäre es besser, keine Freundin zu haben in einem Moment wie diesem? Ich setzte zu einem neuen Fluch an: „Fuck!“ Schon besser, noch etwas heiser und quäkend zwar, aber egal, es befreite irgendwie. Ich richtete mich langsam auf. „Good Morning“ flötete die Herzallerliebste zuckersüss zu mir herüber. Sie packte ihren Koffer. Das braucht Zeit und geht nicht ohne Aufsehen (8 Paar Schuhe + neu gekaufte). „Fuck!“ – das Fluchen am Morgen ist schon zu einer Gewohnheit geworden, dachte ich, liegt das einfach nur am älter werden, oder an den stetig sich verschlechternden gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen? Ich wartete meine Antwort auf diese Frage gar nicht erst ab, schlug die Bettdecke zur Seite und schlich ins Bad. Im Spiegel erwartete mich ein fremder alter Mann. Wir grüssten uns kaum merklich, dann putzten wir gemeinsam die Zähne. Der Fremde sah aus wie Charles Bukowski, oder ein Bruder von ihm mit langen weissen Haaren. Ich bin normalerweise lieber allein im Bad, aber wenn er schon mal da war, man will ja nicht zu unhöflich rüber kommen. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich allmählich. Ich tätschelte dem Bukowski – Double leicht die Wange, er tätschelte zurück: „ … passt schon“. Es war ein erforderliches Mindestmass an Selbstakzeptanz hergestellt, nein, es war gewiss nicht perfekt, keinesfalls, aber damit wollte ich jetzt klar kommen. Und die Welt sollte es auch.
„Du siehst blendend aus, Liebling“, log ich beim Verlassen des Hotelzimmers,
„ ... du aber auch, mein Schatz“, flunkerte sie charmant zurück. Von wem hier wohl die dreistere Lüge ausging, überlasse ich mal dem sachkundigen Urteil der geneigten Leserschaft. Wir erreichten zügig den Frühstückssaal, stapelten unser Gepäck am Eingang und starrten fassungslos auf eine wuselige Menschenmenge, wie wir sie hier die letzten drei Tage nicht erlebt hatten. Alle waren wieder da, die stillen Rentnerpaare in beigen Übergangsjacken, die unternehmungslustigen Menopäuslerinnen und die ganzen anderen Gestalten, die dem verkaufsoffenen Sonntag einer bundesdeutschen Fussgängerzone entnommen schienen. Es roch nach Kaffee und angebranntem Rührei, alle waren bereits auf Betriebstemperatur. Wir nicht. H! wies mich an, zwei Plätze an einem bereits verwüstet zurückgelassenen Tisch am Rande zu belegen, sie würde schnell zwei Kaffee und etwas Gebäck klar machen. Dankbar folgten ihr meine Blicke in Richtung Frühstücksbufett. Ich musterte etwas eingeschüchtert das emsige Treiben um mich herum. Diese fröhlichen Menschen, wie unbedarft sie dem Ende ihres Daseins entgegen trudelten, dachte ich. Echte Aufregung, wenn die Pfütze unter dem Multvitaminsaftspender ausufert, oder wenn die Wurstplatte auf dem Bufett nicht mehr genügend Variationen bietet, Katastophe! Es gab immer einen Grund für Reklamationen, wahrscheinlich arbeitete das Quality – Hotel rund um die Uhr daran, genügend qualitativ hochwertige Gründe zu liefern. Die haben dafür bestimmt auch gut ausgebildete Schuldnehmer bereit stehen, die dann plötzlich auf der Bildfläche erscheinen und sagen, alles meine Schuld, mein Gott, wie konnte das passieren, das tut mir aber leid, sie dürfen mich selbstverständlich persönlich in Haftung nehmen, wenn ich nicht allein meine totkranke Mutter versorgen müsste, hätte ich längst gekündigt. Später wird dann eine lebensecht wirkende Puppe vom Dach geworfen, die dann ketchuptriefend auf der Frühstücksterasse zerschellt und eilligst von hauseigenen Sanitätern abtransportiert wird. Ein Kellner streut dann das Gerücht, der Direktor hätte mit der Schmach nicht mehr leben können, tja, so kam was kommen musste …  – und alle wären zufrieden. Glücklicherweise kam H! jetzt mit dem Kaffee. Manchmal neige ich dazu, apokalyptische Szenarien aufzubauen, aus denen ich selbst kaum wieder herausfinde. Der Kaffee half. Aber noch war kein Anlass, sich entspannt zurückzulehnen. Im Augenwinkel gewahr ich eine neue Bedrohung, ein längst vergessenes, aber unterschwellig stets präsentes Ungemach bahnte sich seinen Weg: Olga (Reiseleiterin / Endgegner). Mein Gott, die hatte ich ja völlig verdrängt. Gut gelaunt tänzelte sie zwischen den Tischen umher, sprach mit dieser oder jenem, scherzte und tätschelte Schultern. Man schien sich näher gekommen zu sein auf den diversen, supergünstigen Ausflügen. Ich sank tiefer in meinen Stuhl, duckte mich weg. Sie kam näher. Für den Bruchteil einer Millisekunde traf mich ihr Blick, dann drehte sie ab und ignorierte uns endgültig. Okay, ich bin vielleicht ein Spinner, oder übertreibe manchmal geringfügig, aber eines kann ich mit absoluter Gewissheit sagen, in diesem zeitlich minimalsten Blickkontakt ist es ihr gelungen, eine Botschaft in mein Gehirn zu implementieren, einem okkulter Bannstrahl gleich, für ewig eingebrannt:
mindig kétszer találkoztok.

Der Diesel drehte untertourig im Heck der Königin der Landstrasse und berieselte die spärliche Botanik am Rande des Parkplatzes mit exquisitem Feinstaub. Die Reisegesellschaft lud ihr Gepäck. Die Stimmung war gut. Hartmut wirkte frisch und ausgeruht. Ich freute mich insgeheim auf seine Witze, obwohl sie vermutlich wieder akustisch nicht zu verstehen sein würden. Die Morgensonne erwärmte meinen Nacken, als wir erwartungsfroh einstiegen. H! griff nach meiner Hand. Es sind diese kleinen Gesten, die mich manchmal wahnsinnig machen vor Glück. Die Plätze wurden, für mich überraschend, so besetzt wie auf der Hinfahrt. Fehlte nur noch, dass Handtücher darüber gelegen hätten. Das gehört vermutlich auch zu diesen Naturgesetzen, ich bin mir aber nicht sicher, ob dazu schon eine wissentschaftliche Arbeit veröffentlicht wurde. Hartmut übernahm souverän das Kommando: Pressluft schloss die Tür, knirschend setzte sich der Bus in Bewegung, am Hotel vorbei, an einer winkenden Olga vobei, Goodbye Olga, bleib da, wo der Pfeffer wächst, auf Nimmerwiedersehn, hahaha, mein innerliches Lachen verklang erst, als das Autobahnschild auftauchte – Hartmut gab Gas.
Ab jetzt wussten alle, wie es weitergehen würde. Wie gesagt, die Stimmung wirkte entspannt, auch wir fühlten uns wieder in die Gruppe aufgenommen. Man plauderte über die Sitzreihen hin und her, die Menopäuslerinnen initiierten eine Sammlung für unseren Busfahrer und sammelten mit einer Schachtel kleinere Geldbeträge ein. Man würde sie Hartmut gegen Ende der Fahrt überreichen. H! fand das gut, ich auch. Irgendwann würde der Bus nochmal anhalten und Hartmut eine lustige Umschreibung für „Pinkelpause“ ins Mikrofon krächzen. Wir würden Kaffee trinken, Pommes essen und eine Zeitung kaufen. Und H! würde fotografieren, aber das war ja sowieso klar. So dödelten wir über die Autobahn gen Westen, dem sagenhaften Strom der Deutschen entgegen, Vater Rhein, im einstmaligen Reich Karls des Grossen, Heinz Schenks und Willy Milowitschs. Heimatgefühle. Ich lehnte mich an H! und döste ein.

Es war ein sanfter Druck von H!, der mich wieder aufwachen liess. Der Bus stand. Sie wolle sich mal kurz frisch machen, gab sie mir zu verstehen. Ich glotzte benommen vor mich hin. Alle im Fahrgastraum waren in Bewegung. Aha, die Pinkelpause, dämmerte es mir langsam.
„Ich komme gleich nach“, rief ich H! hinterher. Nach ein paar Minuten des sich sammelns, schnappte ich meine Jacke und trottete über den Parkplatz. Herleshausen, der ehemalige Grenzübergang, da hatten wir schon auf der Hinfahrt gerastet. Muss wohl der Favorit von unserem Kapitän sein. Hat ja durchaus ein gewisses historisches Flair. Sowas berührt mich, wie bereits erwähnt. Mangels Alternativen gelangte ich also wieder in die Frikadellenbrater – Gastronomie, aber keine H! weit und breit. Ganz normal, sie fotografiert wahrscheinlich. Zwei Espresso später, sagte ich mir nochmal: ganz normal, sie fotografiert – wahrscheinlich, oder? Ich schlenderte zum Sanitärbereich, rief kurz ihren Namen hinein, aber nichts passierte.
Ein Typ, ungefähr meine Altersklasse, kurzes graues Haar, im blauen Retro – Trainingsanzug mit weinrotem Bademantel drüber, lungerte im Eingangsbereich des Herrenklos und las ein Prospekt. Nicht ungewöhnlich, auf Autobahn – Raststätten wird so manch illustres Treibgut angeschwemmt, dachte ich, trinkfeste Fernfahrer aus den Hochkarpaten, Holländer mit havariertem Wohnwagen, usw. Nur, dass er das Prospekt verkehrt herum hielt, schien mir so gar nicht geheuer. Vom Outfit her könnte er auch einem Luis de Funes – Film entsprungen sein oder die örtliche Nervenheilanstalt hatte heute Betriebsausflug. Mmh, egal. Ich ignorierte Ihn und begab mich auf die Suche. Das Gelände war weitläufig, wirkte aber kaum genutzt. Es standen noch ein paar alte Gebäude, die ich schon auf der Hinfahrt registriert hatte. Instinktiv steuerte ich ein marodes Baracken – Ensemble mit allerlei Wildwuchs drumherum an, was H!, wie ich sie kannte, als klassisches Foto – Terrain einstufen würde. Als ich mich kurz umdrehte, bemerkte ich noch, wie ein weinroter Bademantel eiligst hinter einer Säule der Hauptüberdachung des ehemaligen Grenzübergangs in Deckung zu gehen versuchte. Oha, sollte sich etwa die Theorie mit der Nervenheilanstalt bewahrheiten? Meine heimliche Sorge um H! wurde neu entfacht. Ich ging noch ein paar Schritte und drehte mich blitzartig um. Keine Spur mehr von dem seltsamen Vogel, nur  leere Parkplätze in flimmernder Hitze. Als ich Momente später meinen Weg fortsetzen wollte, stand er plötzlich vor mir, keine drei Meter entfernt.
Es gibt Dinge im Leben, die sind nur mit Humor zu ertragen, manchmal braucht´s sogar jede Menge Humor. Ich wäre auch gerne bereit gewesen, all meine Reserven an Humor aus dem Keller zu schleppen, aber irgendwann ist Schluss mit lustig. Beispielsweise wenn du in die Mündung eines AK 47 schaust, dann denkst du garantiert nicht mehr darüber nach, ob du zuhause das Bügeleisen angelassen hast. Zur Erklärung sei hier eingefügt, ein AK 47, vollständig ausgesprochen Automat Kalaschnikow, ist sozusagen der weltweite Topseller unter den Argumentationshilfen undemokratischer Meinungsbildung. Woher weiss der das (wird sicher der ein oder andere fragen)? Nun, ich will nicht unbedingt behaupten, das gehöre schon zur Allgemeinbildung, konkret in meinem Fall muss ich gestehen, lässt sich der Kenntnisstand auf die siebziger Jahre zurück verfolgen, als ich, ein ungeduldiger und zorniger junger Mann, gedachte, dem selbstgefälligen Scheiss – Wirtschaftswunder – Bonzen – Nazi – Kapitalisten –Bullenstaat eins überzubraten, um dann letztendlich der Menschheit den Weg in eine gerechtere Zukunft zu ebnen. Zu diesem Zwecke begann ich ein Fernstudium an der Volkshochschule für angewandte Subversion in Beirut, dass ich glücklicherweise sehr bald wieder abbrach, da die dort propagierte Vorgehensweise zur gesellschaftlichen Umstrukturierung ständig mit meinem humanistisch geprägten Gewissen kollidierte. Fortan fand ich meine Entsprechung mehr in bewusstseinserweiternden Substanzen und Rock ´n´  Roll, zumal das auch bei der Damenwelt mehr Eindruck zu hinterlassen schien. Aber das nur nebenbei. Ausserdem hatte ich damals ganz schön Schiss gehabt, womit wir wieder beim Thema sind.
„Machense bloss keene Schwierigkeiten, Mann“, gab mir der Bademantel in klarem Ostelbisch zu verstehen. Wie gesagt, ich hätte gerne gelacht, zumal er jetzt auch noch den charakteristischen Helm der Nationalen Volksarmee der DDR aufhatte, aber mir war etwas flau in der Magengegend (hiess nicht so ein Typ in einer Science – Fiction – Verarsche mal Lord Helmchen?).
„Da entlang und keene Zicken.“ Er fuchtelte mit dem Gewehrlauf des AK47 in Richtung einer Tür in der Baracke vor uns. Noch bevor wir uns in Bewegung gesetzt hatten, ging die Tür auf und ein älterer Herr, so um die 70, mit Kassenbrille und grauer Uniformjacke musterte uns emotionslos. Er hatte dieses klassische hölzerne Gesicht eines Grenzbeamten, das noch nicht mal dann zuckt, wenn du ihm auf den Schreibtisch pinkelst.
„Genosse, sieh zu, dass der hier reinkommt. Hat dich jemand gesehen? Verdammt, wir müssen aufpassen, Erich.“ Die Ansprache des Hölzernen, ebenfalls in einwandfreiem Ostelbisch, war eindeutig die eines Vorgesetzten. Haha, dachte ich, wenn der jetzt auch noch Walter hiess …
Walter Fröhlich war Major der NVA Grenztruppen, Grenzkommando Süd (Erfurt), Grenzregiment 3. Sein Name entsprach in keinster Weise seinem Gesichtsausdruck. Dass seine Einheit seit ca. 30 Jahren aufgelöst war und er eigentlich seit geraumer Zeit in Pension sein sollte, machte die Sache für keinen von uns heiterer. Insgeheim hoffte ich inständig, dass jetzt irgendwoher Harald Schmidt oder Frank Elstner auf der Bildfläche erscheinen, wir alle händeschüttelnd in die Kamera grinsen würden und ich ein Wochenende für Zwei in der Wellness – Oase Obersuhl gewonnen hätte. Dem war nicht so. Stattdessen gefror mir das Blut in den Adern. Wir betraten einen dunklen, stickigen Raum, dessen Fenster mit Brettern grob zugenagelt waren. Es dauerte einen Augenblick, bis die Augen von der grellen Mittagssonne draussen umgeschaltet hatten, dann sah ich sie, die mir wohlbekannte, sehr vertraute Nikon D 800. Sie lag da vor mir, wie zufällig hingestreut auf den schmucklosen Resopaltisch, neben einem Reisepass und einer Tischlampe (Modell Stasi), wie die Vorbotin des aufkommenden Desasters, ein unbarmherziger Herold, von einem höchst unangenehmen Nachmittag kündend.
Klack, die Verhörlampe ging an, ich wurde auf einen Stuhl gedrückt.
„Sie werden uns ein paar Fragen beantworten müssen. Können sie sich ordnungsgemäss ausweisen, wenn ich bitten dürfte“, herrschte mich die Stimme des Hölzernen aus dem Dunkel an. Als ob das eine Bitte wäre! Mit zittrigen Fingern klaubte ich meinen Reisepass aus der Jackentasche, mit einer Hand die Augen vor der Lampe abschirmend. Was sollte das alles hier? Und wo war H!? Die Kamera war ja schon mal da, aber ohne H!, das liegt ausserhalb jeglichen menschlichen Vorstellungsvermögens – gut, zumindest mal meines. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, das Herz klopfte im Staccato Fulminante, der Schweiss rann in Kaskaden die Wirbelsäule hinab.
„Können wir nicht mal die Scheisslampe ausmachen – bitte?“, versuchte ich mich wieder ins Geschehen zurück zu bringen, „da liegt sicher ein Missverständnis vor, das lässt sich doch alles wie unter vernünftigen, erwachsenen Menschen regeln.“ 
Das war zwar wenig orginell, und ich rechnete auch kaum mit positiver Resonanz, zumal mir der Anteil der Vernunft in diesem Raum drastisch unterrepäsentiert schien, aber das Licht ging tatsächlich aus. Als meine Augen sich wieder umgewöhnt hatten, steckte sich Major Fröhlich eine Club Filter an und blätterte scheinbar unmotiviert in meinem Pass herum. Vermutlich ein alter Berufsreflex.
„Erich, geh auf Posten, dass da nicht noch mehr Klassenfeinde den antifaschistischen Schutzwall zu überwinden versuchen. Aber bleib in der Nähe“, gab er nach einiger Zeit Befehl an den Bademantel, der die ganze Zeit hinter mir gelungert hatte. Beim Verlassen des Raumes hinterliess uns Erich zwei bemerkenswerte Erkenntnisse, fast wäre ich versucht, von Erleuchtung zu sprechen: 1. sein AK 47 hatte kein Magazin aufgesteckt, was mein Nervenkostüm nicht unerheblich zu beruhigen vermochte, 2. er knallte mit dem Helm dermassen gegen den Türrahmen, dass der Raum augenblicklich von einem wunderbar schwingenden Ton erfasst wurde, ähnlich einer tibetischen Klangschale, und sich unser kleines Universum in den schwebenden Zustand transzendentaler Meditation verwandelte – Ommmmm. Major Fröhlich fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er sah alt aus, alt und müde. Wie dem auch sei, Meditation war zur Zeit nicht sein Ding.
„Sie gehören zu der Dame?“, nahm er nüchtern den Ost – West – Dialog wieder auf, diesmal etwas weniger fordernd, fast schon milde (Good Cop – Bad Cop, das alte Spiel als Solonummer).
„Wenn sie diejenige meinen, die zu der Kamera gehört, dann ja.“ –
„Es wurden unerlaubt Bilder gemacht, die ich keinesfalls freigeben kann.“ –
„Wo ist sie?“ –
„Sie ist in guten Händen.“ –
Das verwirrte mich, ich stockte etwas.
„Äh, kann ich …, ich möchte zu ihr.“ –
„Eins nach dem anderen, sie braucht noch etwas, wir mussten sie beruhigen …“ –
„Was heisst denn hier verdammt nochmal beruhigen?“, entfuhr es mir in einer Mischung aus nervlicher Überreiztheit und ängstlicher Unwissenheit. Logisch, das war klar, wenn man ihr die Kamera wegnehmen will, dann wird sie zur Furie. Fröhlichs Gesicht blieb unbeweglich.
„Sie schläft“, sagte er aufreizend ruhig.
„Wie bitte?“ – 
„ -Schlaf der Gerechten- , ein hervorragendes Produkt des Pharmazie – Kombinats Leuna, damit hätte Michael Jackson geschlafen wie ein Murmeltier und erfreute sich heute noch allerbester Gesundheit.“ –
„Was? Wer? Das ist, das ist Körperverletzung. Ich will jetzt zu ihr, die Kamera können sie von mir aus behalten, ausserdem ist mir gerade sowas von egal,  mit was Michael Jackson sich zugeballert hat“, entgegnete ich deutlich unwirsch. Der hatte wohl nicht mehr alle auf der Pfanne. Ausserdem fiel mir plötzlich wieder ein, dass es seit 30 Jahren keinerlei Kompetenzen mehr für irgendwelche Major Fröhlichs mitsamt Bademantelarmee gab. Gut, wenn man mal von dem AK47 absieht.
„Und überhaupt“, schob ich nach, „was wollen sie denn mit diesem grotesken Mummenschanz auf einer bundesdeutschen Autobahnraststätte bitteschön erreichen…“ 
„Der Wessi, der Wessi“, fiel er mir ins Wort, „wie er sich aufplustern kann. Ihr glaubt, ihr könnt euch alles erlauben, ein von den werktätigen Menschen hier getragenes, fortschrittliches Gesellschaftsmodell mit eurer Arroganz und noch mehr Geld einverleiben!“ „Was heisst hier einverleiben? Ihr wolltet doch den Anschluss, ich jedenfalls nicht.“ –
„Ihr bedauernswerten Speichellecker des Grosskapitals, euch war es doch egal, wer hier auf der Strecke bleibt. Hauptsache die Penunze stimmt. Was glauben sie, wieviele von uns sich da rauf in den Thüringer Wald bis rüber ins Erzgebirge gegangen sind und da ausharren, zuverlässige Frauen und Männer, gut ausgebildet, immer kampfbereit den antifaschistischen Schutzwall, oder was da kommen mag, zu verteidigen.“
Das glaubte ich nicht, jetzt trug er aber ganz schön dick auf. Ich hatte mal von versprengten japanischen Soldaten im 2. Weltkrieg gehört, die auf irgendwelchen Inseln im Pazifik vergessen wurden und noch Jahre nach Kriegsende die Stellung hielten. Aber versteckte DDR Grenzer im Thüringer Wald 30 Jahre nach Maueröffnung? Was soll´s, das war mir jetzt erstmal zu blöd, ich musste H! finden und einen Weg raus aus dieser Absurdität.
„Vorschlag, sie geben mir meine Frau zurück, sie kriegen die Speicherkarte von der Kamera und wir hauen ab, als wäre nichts gewesen. Erzählen werden wir das niemand, glaubt uns eh keine Sau. Deal?“ regte ich die Abrüstungsgespräche wieder an. Fröhlich schien zu überlegen.
„Diel?“ –
„Geschäft“ –
„Moment“, er stand auf und ging zur rückwärtigen Tür, klopfte an und fragte, „ist die Delinquentin soweit?“
Von drinnen klang Unverständliches zu uns. Er öffnete die Tür. Über seine Schulter erblickte ich H!. Sie sass auf einem Stuhl, der Kopf hing etwas schief, die Augen leicht geöffnet. Ein dünner Speichelfaden rann aus ihrem tieferliegenden Mundwinkel gen Bretterboden. „Aaaaaaaaaaargh!“, Major Fröhlich zuckte heftig zusammen, als ich ihm panisch ins Ohr schrie. Der kalte Schweiss trat auf meine Stirn. Es war nicht H!, die mein Entsetzen
hervorrief, es war die Silouette einer kleinen Frau, die im Halbdunkel hinter ihr stand, eine kleine Frau in Uniform mit einem Schiffchen (Militärmütze) auf dem Kopf, eine mir wohlbekannte Frau, eine gefürchtete, gehasste, längst verdrängte – Olga, der, die, das Endgegner! Sie war da!!!
Ich verlor kurzzeitig die Fassung, röchelte, rang nach Luft. Major Fröhlich zeigte sich angesichts meiner theatralisch anmutenden Auflösungserscheinungen überrascht und bot ein Glas Wasser an.
„Da pfeiff´ ich drauf“, heulte ich hysterisch auf, „was macht die, die da, da die, die da …“
Ich gebe zu, mein Text war für die Anwesenden wenig erhellend, ausser sie würden in ihrer Freizeit auf dadaistischer Performance stehen.
„Das ist Oberleutnant Hidegkuti“, versuchte Major Fröhlich die Situation zu beruhigen, „ein äusserst tüchtiger Versorgungsoffizier der ungarischen Volksstreitkräfte. Wie ich annehme, hatten sie schon das Vergnügen. Oberleutnant Hidegkuti organisiert Reiseveranstaltungen, die der Unterstützung unserer Streitkräfte in Bereitschaft an den verschiedenen, zur Zeit nicht in Betrieb befindlichen, Grenzabschnitten dient.“
„Ach so, das ist eine Geiselnahme, sie wollen Geld, wahrscheinlich das Geld für nicht in Anspruch genommenen, supergünstige Tagesausflüge nach Leipzig und ins Elbsandsteingebirge“, mutmasste ich mal ins Blaue. Langsam fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich griff nach meiner Geldbörse. Hidegkuti lachte amüsiert auf.
„Selbstverständlich verurteilen wir jede Art von Banditentum aufs schärftste, aber eine freiwillige Spende wäre aus gegebenem Anlass eine begrüssenswerte Geste der Völkerverständigung“, liess sie in ihrem prägnanten ungarischen Akzent vernehmen.
Vor der Baracke hatte sich, von allen hier drinnen unbeachtet, der Geräuschpegel deutlich erhöht, Motorengeräusche von schweren Maschinen, Stimmen. Die Eingangstür flog plötzlich auf und – Dong – Erich knallte mit dem Helm an den Türrahmen. Wieder entstand für Sekunden dieser Moment tiefsten Einklangs von Seele und sämtlichen anderen Dimensionen, bevor er hastig seine Meldung über die Ankunft  feindlicher Invasionsarmeen in nicht definierbarer Truppenstärke, sowie Herkunft, absetzen konnte. Währenddessen schlug das erste Geschoss in die Hütte ein, wenn man Erichs dramatischer Darstellung folgen wollte. Drücken wir es mal mehr an Fakten orientiert aus, das Holz krachte und splitterte im Bereich des zugenagelten Fensters heftig. Wir standen, Fröhlich und ich, immernoch im Türrahmen zum Nebenraum und schauten entsetzt auf das durch ein neues Loch einfallende Sonnenlicht. Die Lage geriet ausser Kontrolle, kein Zweifel (Wenn sie überhaupt je unter irgendeiner Kontrolle war). H! sass noch immer wie paralysiert auf dem Stuhl und zog Rotze nach oben. Oberleutnant Hideghuti hatte währenddessen ihre Dienstwaffe (Makarow PM 9mm) gezogen und zielte finster blickend auf meinen Kopf. Eine Handlung, die meine  Zuversicht augenblicklich ins Bodenlose fallen liess. Dafür schien Major Fröhlich die Nerven zu behalten. Kurz und knapp befahl er, „Abmarsch!“, dann ging alles rasend schnell. Der kurioseste Militärhaufen seit der Blechbüchsenarmee aus der Augsburger Puppenkiste trat den Rückzug an. Sie verliessen den Nebenraum durch eine Hintertür, befreiten einen versteckten Wartburg 353 von einem Tarnnetz und entfleuchten in einer stinkenden Abgaswolke in den nahegelegenen Höhenzug.
Plötzlich allein, schnappte ich mir H!s rechten Arm und schwang ihn über meine Schulter. Mannomann, sie war noch ganz schön weggedröhnt. Dann zog ich sie mit mir, zurück in das erste Zimmer, krallte mir die Nikon plus Reisepässe mit einer Hand, trat die Tür auf und wir stolperten hinaus in das gleissende Licht eines friedvollen Herleshausener Raststättensommers. Der Bauarbeitertrupp in orangenen Arbeitshosen war jedenfalls mächtig beeindruckt von unserem Auftritt. Der Baggerfahrer stellte augenblicklich den Betrieb ein und bedachte uns mit einem ausgesuchten Sortiment von derben Flüchen, kulturanthropologisch dem bayrischen Sprachkreis anhängig, was sehr leicht an der überproportionalen Präsenz sakraler Attribute zu erkennen war. Inhaltlich hatte er zweifelsohne Recht, wir hätten die Baustelle nicht betreten dürfen, worauf ein ordnungsgemäss angebrachtes Schild auch hinwies. Ich überlegte kurz, ob ich ihm den tatsächlichen Hintergrund dieser Ordnungsverletzung (Lord Helmchen, AK 47, Major Fröhlich, Olga, etc.) näherbringen sollte, verwarf den Gedanken aber schnellstens. Die Jungs vom Bautrupp, weitgehend türkischer Herkunft, hatten da bereits ihre ganz eigene Interpretation zu unserer illegalen Anwesenheit entwickelt, was sie mit allerlei obszönen Gesten zu untermalen suchten. Auch da schien mir ein Rechtfertigungsversuch deplaziert. Selbst ein machohaftes Grinsen wollte mir nicht recht gelingen. Also suchten wir schleunigst das Weite, was reichlich unelegant ausgesehen haben muss, wenn ich das Gefeixe und Gejohle hinter uns richtig deuten darf. Ich schleppte H! und eine mit jedem Meter schwerer werdende Nikon D 800 dennoch irgendwie vorwärts, dem wartenden Reisebus entgegen. Soweit der denn noch wartete.
Fast. Er wartete fast. Keine Ahnung wieviel Zeit seit meinem Aufbruch vergangen war. Ich sah ihn bereits anrollen, als wir noch ca. 100 Meter entfernt waren. Wild gestikulierend rannten wir hinter ihm her, genauer gesagt, ich rannte, H! torkelte. Das hat dann wohl irgendwer im Bus hinten mitgekriegt und die frohe Botschaft weitergeleitet. Nach atemlosen letzten Schritten ging endlich zischend die Tür auf und wir wurden von den vorwurfsvollen, aber letztendlich schon-alles- erlebt-habenden Blicken Hartmuts wieder gnädig aufgenommen. Die Blicke der Kaffeefahrer waren von erheblich weniger verzeihender Güte.  Keine Frage, wir waren unten durch, als wir uns spiessrutenläufig durch den Mittelgang schoben. Erschöpft fielen wir in unsere Sitze, ich weinte still in mich hinein, H! zitterte, der Asphalt roch nach Götterdämmerung. Wir flogen nach Westen.
Die Reise verlief ohne weitere Zwischenfälle. Ich schaute H! dabei zu , wie sie schlief. Und ich wurde endlich ruhiger. Ein tiefes Gefühl der Zuneigung ergreift mich dann jedes mal. Sie hätte mir wahrscheinlich einiges an Fragen gestellt, aber sie war glücklicherweise ziemlich kaputt. Es wäre auch einigermassen schwierig geworden, etwas plausibel zu erklären, was völlig Banane ist. Gut, da werde ich nicht drumherum kommen, irgendwann, dachte ich. Vorerst sollte man sich lieber die schönen Dinge unserer Kaffeefahrt in das Gedächtnis zurückrufen, als da wären … ? Ich starrte auf die vorbeifliegende Landschaft und versuchte, Resümee zu ziehen. Das war gar nicht so einfach, mein Gehirn schien irgendwie zu eiern, ähnlich wie im Hygienemuseum neulich. Spontan blieb ich am ersten Tag hängen, der erste Eindruck ist ja bekanntlich immer ganz ganz wichtig.
„Die Leute sprechen komisch, aber das Bier ist gut“, murmelte ich leise vor mich hin, wiederholte den Satz gebetsmühlenartig, wieder und wieder, bis mein Geist in einen meditaitiven Zustand überging und ich Schwingung von dutzenden tibetischen NVA – Helmen wahrzunehmen glaubte, schwingend bis heftig rüttelnd … – das heftige Rütteln kam allerdings von Hartmuts Arm, der versuchte mich aus der Trance zu holen. Wir wollten doch jetzt sicher aussteigen, gab er mir zu verstehen und deutete nach draussen: Frankfurt – Busterminal. Wow, das ging aber zackig, dachte ich, langsam aus dem halbkomatösen Zustand erwachend. H! grinste verschämt vor sich hin, sie hatte auch Mühe, in der Realität anzukommen. Es gelang dann aber doch. Die Koffer waren flott entladen, missmutig beäugt von den Weiterreisenden. Und schwuppsdiwupps, flog die alte, im Gegensatz zu uns  wesentlich frischer aussehende, Königin der Landstrasse ihren neuen Zielen entgegen. Wir verabschiedeten uns noch knapp von dem älteren Paar aus Rüsselsheim, das uns verwundert nachschaute, während wir uns wackelig vom Hof schlichen. Angesichts unseres suboptimalen Gesamtzustands, spendierte ich ein Taxi. Ein gut gelaunter Taxifahrer begrüsste uns mit einem fröhlichen Bengalo – Hessisch, aus den Lautsprechern des Soundsystems drang ein lustig, monotones Punjabi – Gerappe. Ah, dachte ich, wir sind wieder zuhause. Unterwegs versuchte der freundliche Fahrzeugführer mit uns die ein oder andere Runde Smalltalk. Unter anderem erfuhren wir von seinem Schwager, der in Ostelbien ein Import – Export – Geschäft betrieben hätte, mittlerweile aber wieder in Wanne – Eickel ansässig wäre. „Birr gudd, Leude ganse komisch spreche“, hätte der seinen Ostelbien – Trip immer zusammengefasst. Wir nickten simultan verständnisvoll.
Bald danach setzte ich H! bei ihr zuhause ab. Wir verabredeten uns für später auf ein paar Spaghetti und vielleicht … – mal sehen. Ich bat den Taxifahrer, am Kiosk zu halten, zahlte und stieg aus. Es gibt doch nichts schöneres als eiskaltes Bier, dass an einem schwülwarmen Sommernachmittag die Kehle runter rinnt, egal wer oder wie da  jemand spricht. Ich beschloss, dieses Ritual meditativ zu wiederholen, immer und immer wieder, da kenn´ ich mich ja aus.
Ende

Danksagung:
Ich möchte meinen Eltern danken, ohne die dieser Roman nie geschrieben worden wäre.
Und vor allem H!, die es tapfer ertragen hat, nicht die erhoffte Rolle einer heldenhaften Kämpferin für Frauenrechte, Umweltschutz und Weltfrieden in diesem Werk gespielt zu haben. Nächstes mal, versprochen.
Und natürlich auch Hartmut, dem Busfahrer, die coolste Socke auf bundesdeutschen Fernstrassen. Danke.
Und nicht zuletzt Major Fröhlich, der mich kürzlich mit einer Einladung zu seiner Klangschalen Ausstellung auf der Esoterikmesse Basel überrascht hat. Weiter so, Walter!
Weiterhin möchte ich eine Reisewarnung aussprechen: halten Sie mit ihrem PKW im Bereich Thüringer Wald und Erzgebirge keinesfalls auf offener Strecke und meiden Sie abgelegene Bergtäler.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.






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